Am 21. Februar 1938, kurz vor dem "Anschluss" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland, marschieren 500 Menschen in einem Fackelzug durch Wattens. Die Mehrheit der Teilnehmer, so berichtet die Gendarmerie etwas später, sind Mitarbeiter des Swarovski-Werks in dem Tiroler Ort. Mit dabei sind zwei Erben aus der Swarovski-Familie, Wilhelm und Friedrich. Der Marsch endet mit "Sieg Heil"- und "Heil Hitler"-Rufen" und den ersten Strophen des Deutschlandliedes, dem bekannten "Deutschland, Deutschland über alles".

Diese Episode findet sich in einem Aufsatz, den der Historiker Dieter Stiefel soeben in einem historischen Fachjournal namens Contemporary Austrian Studies publiziert hat. Der erwähnte Beitrag ist die kurze Zusammenfassung zweier Bücher, die Stiefel in den vergangenen Jahren über Swarovski geschrieben hat. Beide Bücher beleuchten die Rolle der Firma und ihrer Eigentümer während der NS-Zeit. Beide Bücher dürfen bis heute nicht veröffentlicht werden, der Konzern hat sie verräumt – obwohl das Unternehmen die historische Aufarbeitung bei Stiefel selbst in Auftrag gegeben hat.

"Wir wollen proaktiv mit unserer Geschichte umgehen", sagt Markus Langes-Swarovski, einer der einflussreichsten Vertreter der Familie heute (siehe Interview rechts). Aber was ist dazwischengekommen? Die folgende Geschichte beleuchtet die Vergangenheit eines der renommiertesten österreichischen Familienunternehmen, dessen führende Köpfe enge Verflechtungen mit dem NS-Regime hatten.

Sie handelt zugleich davon, wie schwer es selbst heute, mehr als 70 Jahre nach dem Ende der NS-Zeit, fallen kann, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Swarovski ist ein Unternehmen, dessen Führung zwischen dem Wunsch, die eigene Geschichte aufzuarbeiten, und der Furcht vor möglichen negativen Konsequenzen einer solchen Transparenz hin- und hergerissen ist.

Ein Foto aus dem Jahr 1935 mit den wichtigsten Akteuren bei Swarovski: Firmengründer Daniel Swarovski und seine drei Söhne Wilhelm, Friedrich und Alfred.
Foto: Swarovski Corporate Archive

Der Grundstein für das heutige Unternehmen wird im böhmischen Gablonz Ende des 19. Jahrhunderts gelegt. Der Ort ist damals weltbekannt für seine Glasperlenproduktion. 1891 entwickelt Daniel Swarovski, er ist Handwerker, eine maschinelle Schleifmaschine für Glas. Das Gerät ermöglicht es, den Glasschmuck industriell herzustellen, statt ihn wie bisher in mühevoller Handarbeit zu erzeugen.

Der Aufstieg zum Weltkonzern beginnt

Ein jüdischer Händler aus Paris namens Armand Kosmann, der das Unterfangen finanziert, Daniel Swarovski und ein dritter Teilhaber schließen sich zusammen und gründen ein Unternehmen. Bald übersiedeln sie nach Wattens in Tirol, weil dort der für die Produktion so wichtige elektrische Strom dank der Wasserkraft ausreichend vorhanden ist. Swarovski kann durch seine Fertigungstechnik derart kostengünstig produzieren, dass der Modeschmuck für breite Schichten erschwinglich wird. Und so beginnt der Aufstieg zum Großunternehmen.

Das Schicksal der Firma prägen in der folgenden Phase vier Menschen: Neben dem Patron Daniel (1862-1956) sind es seine drei Söhne Wilhelm (1888-1962), Friedrich (1890-1961) und Alfred (1891-1960), von denen die ersteren beiden beim Fackelmarsch dabei waren. Sie führen die Alltagsgeschäfte. Alfred leitet die Finanzen, Friedrich die Produktion, Wilhelm ist für Chemie zuständig. Bis in die Gegenwart spielen sie eine wichtige Rolle: Alle Nachfahren, die gesamte Familie Swarovski, ist in drei Stämme unterteilt. Die Unternehmersöhne sind es, die im Zentrum der Nazi-Vorwürfe stehen.

Verdienste um die Partei

Heute ist die Swarovski-Gruppe ein Konzern mit einem Umsatz von 3,2 Milliarden Euro, China und die USA sind die wichtigsten Absatzmärkte für die Ringe, Ketten, Figuren, Kerzenhalter und Broschen der Marke. 32.000 Mitarbeiter beschäftigt die Gruppe. 3000 Swarovski-Boutiquen finden sich quer über den Globus verteilt. Trotz seiner internationalen Struktur ist Swarovski ein Familienunternehmen geblieben.

Swarovski zählt zu den größten Konzernen Österreichs. Im Bild: eine Werbeaktion des Unternehmens in New York.
Foto: imago

Aufs Tapet gebracht hat die Rolle der Familie in der NS-Zeit der Innsbrucker Historiker Horst Schreiber Mitte der 1990er-Jahre in einem Beitrag über die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Tirols. Darin thematisiert er, dass sich die Familie Swarovski bereits vor der Zeit des "Anschlusses", als die NSDAP in Österreich verboten war, um den Nationalsozialismus verdient gemacht hat.

Als Beleg dafür dient ihm, dass die wichtigsten Familienmitglieder nach dem "Anschluss" Österreichs NSDAP-Parteimitgliedsnummern aus dem Block der "Illegalen" bekommen. Eine solche erhielt, wer sich für die Bewegung starkgemacht hatte, als sie in Österreich verboten gewesen war. Schreiber war es auch, der als Erster den Fackelzug 1938 thematisierte. Er beleuchtete, dass Alfred Swarovski zwischen 1943 und 1945 die Wirtschaftskammer für den Gau Tirol-Vorarlberg leitet.

Das ist zwar keine politische Funktion im engeren Sinn, wohl ist Alfred damit aber für die Organisation der Rüstungsindustrie im Gau mitverantwortlich. Schreiber zeigt, wie der Reichskommissar für die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich, Josef Bürckel, fast schwärmerisch davon berichtet, dass der Swarovski-Betrieb bereits vor dem "Anschluss" einwandfrei nationalsozialistisch geführt war.

Historische Ansicht der Swarovski-Fabrik in Wattens.
Swarovski Corporate Archive

Angesichts dieser Vorwürfe wird der Wiener Historiker Dieter Stiefel im Jahr 2011 von Markus Langes-Swarovski, der nicht nur einer der Dynastieerben ist, sondern auch als Geschäftsführer der Swarovski Group fungiert, damit beauftragt, die NS-Vergangenheit des Unternehmens aufzuarbeiten. Er treibt das Projekt voran.

Tausende Dokumente im Archiv

Stiefel, ein emeritierter Professor, ist ein erfahrener Wirtschaftshistoriker. Der Forscher mit dem Schnauzer hat die NS-Geschichte mehrerer Unternehmen nachgezeichnet, darunter die des Baukonzerns Porr. Stiefel erhält Zugang zu dem Unternehmensarchiv in Wattens. Es beherbergt tausende Dokumente: Briefe, handschriftliche Notizen der Eigentümer, Verträge. Stiefel wühlt sich wochenlang durch die Akten.

Um eine bessere historische Einbettung zu ermöglichen, schlägt er vor, die Analyse nicht auf die NS-Zeit zu beschränken. Die Idee findet Anklang. Stiefel stellt 2014 eine Biografie über den Unternehmensgründer Daniel Swarovski fertig, in der die Fakten aus der Nazi-Zeit prominent behandelt werden. Das 400-seitige Manuskript für das Buch ist druckbereit. Doch innerhalb der rund 80 Gesellschafter des Unternehmens stößt das Projekt auf Widerstand. Eine Veröffentlichung wird abgelehnt.

Dass ein Historiker damit beauftragt wurde, die Unternehmensvergangenheit zu beleuchten, ist öffentlich bekannt gegeben worden. Wenn es nie ein Ergebnis gibt, führt das zu unangenehmen Fragen: Was wird verheimlicht? Mit Stiefel wird vereinbart, einen weiteren Anlauf zu nehmen. Er stellt 2016 ein zweites Buch zusammen.

Empfang für Adolf Hitler 1938 für Österreich.
Foto: imago

Dieses dreht sich ausschließlich um die NS-Zeit. Anpassung und Widerstand – Swarovski im Nationalsozialismus heißt es. Der Böhlau-Verlag soll es veröffentlichen. Die ersten 500 Exemplare sind gedruckt – verschwinden aber im Archiv in Wattens, nachdem erneut Widerstand von einigen Eigentümern kommt. Stiefel sagt, dass er angesichts der komplexen Familienstruktur hinter der Firma nicht genau weiß, wer welche Bedenken äußert. Das Ganze erinnere ihn an Kafkas Prozess. "Man kennt die Richter nicht, es verändern sich die Gesetze, ihr Prozess schiebt sich hinaus."

Zwei Gründe lassen sich dafür festmachen, dass das Unternehmen zunächst gar nichts veröffentlicht sehen will. Einige aus der Familie finden, dass in der fertigen Biografie ihr Teil des Familienstammes, also ihre Urgroßväter, nicht gut wegkommt. Sie sagen, dass nicht persönlichen Geschichten so sehr in den Vordergrund gerückt werden sollen.

Hinzu kommen Einwände geschäftlicher Natur: Was, wenn die Veröffentlichung eines Buches über die NS-Zeit dem Unternehmen wirtschaftlich schadet? Besonders in den USA, einem der Hauptabsatzmärkte, könnte das Thema sensibel sein. Die Gegenstimmen kommen dem Vernehmen nach vor allem aus London, von wo aus die PR und die Marktkommunikation der Unternehmensgruppe geleitet werden.

Keine Einmischung

Stiefel hat sich vertraglich ausbedungen, dass er ohne Einmischung arbeiten darf. Die historische Aufarbeitung bestellen die Swarovskis aber für sich, und eine Pflicht zur Veröffentlichung wird vertraglich nicht vereinbart. Juristisch ist das Unternehmen im Recht. Was Stiefel zugestanden wird, ist die erwähnte Publikation im Fachmagazin. Ein erster Durchbruch.

In dem Beitrag zeigt Stiefel, dass die Swarovskis vom Nationalsozialismus unterschiedlich angezogen waren. Alfred und der Unternehmensgründer Daniel schließen sich der NSDAP nach dem "Anschluss" an. Wilhelm und Friedrich traten der NSDAP aber schon 1933 bei. Der Historiker Oliver Rathkolb hält einen so frühen Zeitpunkt gerade bei Unternehmern für "ungewöhnlich". Das spreche für "ideologische Überzeugung" und dagegen, dass hier jemand rein opportunistisch gehandelt hat.

Der Historiker Stiefel behandelt auch die Zwangsarbeiter, die bei Swarovski arbeiten mussten. 1944 war jeder sechste bis siebente Arbeiter ein Zwangsarbeiter, wobei es sich um 124 aus Westeuropa verschleppte Menschen handelte. Swarovski zahlte 2000 zehn Millionen Schilling an den NS-Zwangsarbeiterentschädigungsfonds.

Richtig, nicht falsch gehandelt

Im Übrigen ist die Geschichte sehr typisch für das Nachkriegsösterreich: Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entsteht kurzfristig Druck auf die Familie. Das Verbotsgesetz von 1945/1947 sah vor, dass sich Menschen, die zwischen 1933 und 1945 der NSDAP, der SS oder anderen Nazi-Organisationen angehört hatten, registrieren lassen mussten. Für sie galten Berufsverbote.

Die Unternehmerfamilie wird in der fünften Generation fortgeführt.

Die gelisteten Personen dürfen keine Firmen führen und waren Vermögensbeschränkungen unterworfen. Der Bundespräsident konnte Personen von der Liste streichen. Daniel, Alfred, Wilhelm und Friedrich suchten darum an. Stiefel zitiert aus ihren Anträgen. Von Reue oder Selbstkritik keine Spur, im Gegenteil. Friedrich schreibt: "Der Eintritt der Firmeninhaber in die Partei war aus wirtschaftlichen Gründen notwendig und kommt heute dem Unternehmen und der österreichischen Wirtschaft voll zugute." Die Führung des Unternehmens "handelte daher nicht falsch, sondern richtig".

Die "Pflicht" erfüllen in der Republik

Alfred schreibt, dass man als Unternehmer nur überleben könne, wenn man mit herrschenden Regimen nicht in Konflikt gerate. "Es ist daher ebenso selbstverständlich, dass das Unternehmen seine Pflicht im neuen Österreich erfüllt und sich dem Staat verpflichten wird." Die Ansuchen der Swarovskis werden von der ÖVP unterstützt. 1948 werden sie vom Bundespräsidenten von der schwarzen Liste gestrichen.

Das Unternehmen ist wichtig für die Wirtschaft, bietet Arbeitsplätze. Ebenso wichtig ist, dass es weitergehen soll mit dem Leben in Österreich und sich das Land nicht mit Geschichtsaufarbeitung aufhalten will.

Swarovski-Stand, anlässlich einer Messe für Uhren und Schmuck in Basel.

Ökonomisch hat die NS-Herrschaft Swarovski zunächst in Bedrängnis gebracht: Das Deutsche Reich ist abgeschirmt. Auf Exporte in die USA werden nach dem "Anschluss" Österreichs hohe Zölle eingehoben. Das Reichswirtschaftsministerium hilft Swarovski mit Exportförderungen. Mit Kriegsbeginn bricht der Exportmarkt komplett zusammen – für Swarovski eine Katastrophe. Das ändert sich bald. Swarovski wird ein Großerzeuger für die Wehrmacht und produziert bis Kriegsende 180.000 Ferngläser.

"Träger des Systems"

War es für führende Unternehmer in Österreich "notwendig", der NSDAP beizutreten, um ihr Unternehmen zu erhalten? Nein, sagt der Historiker Oliver Rathkolb. Gemacht hat das, wer "mitspielen und Geschäfte machen wollte" oder überzeugt war. Die Behauptung, es habe keinen anderen Weg gegeben, sei eine typische Schutzbehauptung nach 1945 gewesen.

Für den Historiker Stiefel ist es das erste Mal, dass er das Gesamtergebnis seiner Forschung nicht publizieren darf. Dabei rückt seine Arbeit die Familie keineswegs nur in ein schlechtes Licht, seine Darstellung ist differenziert. "Sie waren Träger des Nazi-Systems im eigenen Interesse", sagt er. Aber er hält auch fest, dass er für einige der früheren Anschuldigungen keine Belege gefunden hat. Etwa dass die Swarovskis schon zwischen 1933 und 1938 für die NSDAP illegal aktiv waren.

Die andere Seite

Er beleuchtet zudem Episoden, die noch eine andere Seite der handelnden Personen zeigen. Eine betrifft den jüdischen Mitbeteiligten am Unternehmen, Kosmann: Nach dessen Tod übernimmt sein jüdischer Neffe Jean Crailsheimer in den 1930er-Jahren den Drittelanteil am Unternehmen. Eine Arisierung wird von den Nazis zwar eingeleitet, aber von Anwälten der Swarovskis durch Verfahrensverschleppung verhindert. Für die Swarovskis haben die jüdischen Miteigentümer dazugehört, "zu ihnen war man loyal", sagt der Historiker Stiefel. Solche Episoden sind es, deretwegen er sein zweites Buch Anpassung und Widerstand nannte.

30 Seiten daraus wurden nun veröffentlicht – den Swarovskis reicht das. "Das zentrale Kapitel aus dem Buch ist nun in dem wissenschaftlichen Journal abgedruckt. Damit liegt das offen", sagt Markus Langes-Swarovski. Stiefel würde dagegen gern das gesamte Buch publiziert sehen. Ob es dazu kommt, ist zweifelhaft. (András Szigetvari, 22.12.2018)