Der Engel (Lola Klamroth) aus Oskar Panizzas antikatholischer Groteske hört Gottvater (Margot Gödrös) zu. Oder ist es der Engel der Geschichte? Hinten: Sabine Waibel.

Foto: Tommy Hetzel

Beim Skifahren geht es naturgemäß den Hang hinab. In Abgründe hinunter geht es auch in Elfriede Jelineks Text.

Foto: Tommy Hetzel

Köln– Vor über einem Jahr wurde durch ein STANDARD-Gespräch mit der Abfahrtsmeisterin Nicola Werdenigg der massive Machtmissbrauch im österreichischen Skiverband der 1970er-Jahre publik. Jetzt gibt es bereits ein Theaterstück dazu. Elfriede Jelinek, die wachsamste und produktivste Österreich-Beobachterin unter den Dramatikern, lässt in Schnee Weiß der Debatte zugehörige Stimmen (und noch viel mehr) gegeneinanderlaufen.

Es ist – wie immer bei Jelinek – eine polyphone Suada, die über 92 Seiten lang das weitgehende Dulden von (sexueller) Gewalt als krasses kulturelles Defizit kenntlich macht. Die Vergehen im Skisport sind dabei nur der Anstoß für ein Lamento über die in Österreich tief wurzelnde Verherrlichung von Hierarchien und die ausgeprägte Doppelmoral. Wie gewohnt hatte das Stück nicht in Österreich seine Uraufführung, sondern in Deutschland, am Schauspiel Köln in der Regie von Stefan Bachmann.

Schöpfungsmüder Gott

Unterlegt ist Jelineks Redestrom von Motiven aus Oskar Panizzas antikatholischer Groteske Das Liebeskonzil (1894), in der selbst die Himmelsgestalten Gottvater, Jesus und die Jungfrau Maria vom rücksichtslosen Treiben unter den Menschen geschockt sind und händeringend nach einer Lösung suchen. Gott ist längst schöpfungsmüde, er wird keine neuen Menschen mehr formen und muss wohl oder übel mit den vorhandenen sein Auslangen finden.

Bei der Uraufführung am Freitag wurde der greise Gottvater (Margot Gödrös) dann und wann im Rollstuhl an die Rampe gefahren, um sich Luft zu machen. Und der mieselsüchtige Jesus (Peter Knaack) – begierig nach seinem eigenen Opferstatus ("Einen körperlichen Übergriff würde ich absolut nennen, was mir passiert ist") – posiert als ein auf Blizzard-Skier Gekreuzigter.

Mit einem schneebedeckten Golgota-Hügel in der Mitte der Bühne beginnt alles: Regisseur Bachmann lässt die Schauspieler in sportlicher Vollmontur mit Carving-Skiern und zu DJ-Ötzi-Klängen über einen steilen Zwei-Meter-Hang (ja!) abfahren. Damit schließt der Regisseur an seine Akademietheater-Inszenierung von Jelineks Winterreise 2012 an, in der ebenfalls Steilhang, Skifahrer und DJ-Ötzi das Kraut fett machten.

Alte Leier

Doch dieses actionreiche Intro kann der Zähigkeit des Abends nichts anhaben. Den Text zu aktivieren, ihn "hörbar" zu machen, das gelingt Bachmann nur momenthaft. Vieles erscheint weggesprochen. Ratlos und behäbig wirkt auch die Illustration des Textmassivs mit den immer ähnlichen Bildern aus dem imaginären Jelinek-Inszenierungskatalog.

Schnee Weiß verhandelt indes auch viel gekanntes und von Jelinek mehrfach behandeltes Material. Dies wissend schenkt uns die Autorin den besten Untertitel der Saison: Die Erfindung der alten Leier. Jelinek überblendet Katholizismus, Skiverband, Sport, Gewalt, Tourismus usw. Immer gespiegelt in theoretischen oder mythologischen Rastern, etwa in Freuds Thesen über den Fetischismus oder in einem Text der französischen Psychoanalytikerin Marie Bonaparte (Symbolik der Kopftrophäen, 1927).

Wildes Treiben

Einmal dreht sich die Bühne und offenbart im Rücken des schneebedeckten Berges die Hölle des gewaltsamen Treibens. Perchtenmonster penetrieren mit ihrem Goldpokal den oder die am Boden Liegenden. Giftiger Nachsatz: Und den Goldpokal müssen nachher eh wieder die Frauen putzen. Oben am Rand dieses Hölleneinblicks sitzt ein Engel mit übergroßem Kopf und schaut zu. Es ist jenes tote Kind aus Panizzas Satire, das die Übergriffe eines Schulrektors nicht überlebt hat.

Der Teufel liegt im Detail. Und der blitzt immer noch in Jelineks Sprache auf. An halsbrecherischen Kontextverschiebungen macht sich die Nobelpreisträgerin zu schaffen: Was aus "Gletscherspalten", der "heiligen Kuh", dem "Einfädeln" alles Mehrdeutige werden kann! Oder noch besser: "der blutige Verband".

Resignation

Auch ein denkwürdiger Schluss ist Elfriede Jelinek geglückt. Weit entfernt schon von den konkreten Skiverbandsvorwürfen blendet der Text am Ende nach zwei Stunden in den Flughafen von Kuala Lumpur, wo zwei Frauen mit Kosmetika einen Mann vergiften. Der Mythos der männermordenden Rachegöttinnen als Ermächtigungsfantasie? Mitnichten. Jelineks Schnee Weiß ist keine Erbauungsliteratur, sondern ähnlich wie schon ihr sogenanntes Trump-Stück Am Königsweg ein weiterer Schritt in die bittere Resignation. Die Mörderinnen des Halbbruderns von Kim Jong-un waren bekanntlich selbst ahnungslos ausgenützte Subjekte. Eine heftige Bilanz. (Margarete Affenzeller, 23.12.2018)