Schauen Sie doch bitte einmal diskret auf die Menschen in Ihrer unmittelbaren Umgebung und versuchen Sie, deren Gefühle zu erkennen. Können Sie die Blicke in der Straßenbahn deuten? Was sehen Sie, wenn Sie im Café oder im Wartezimmer beim Arzt in die Runde schauen? Skeptische, neugierige, ängstliche, wache, gelangweilte, böse oder belustigte Blicke? Was fühlen Sie, wenn Sie bemerken, dass ein Mensch traurig ist? Wie geht es Ihnen, wenn Sie einen emotional mitreißenden Film sehen oder ein ergreifendes Musikstück hören? Schmelzen Sie dahin? Gut, dann haben Sie schon gewonnen und sind laut zahlreichen, recht simplen Tests, die im Netz kursieren, empathisch.

Ein Bub, der ein trauriges Mädchen am Schulhof tröstet: Der Mensch hat als soziales Wesen die große Gabe, Gefühle bei anderen zu erkennen. Mitunter zeigt er es nur nicht so, wie er könnte.
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Gerade zur Weihnachtszeit wird an diese ursächlich menschliche Fähigkeit appelliert, wobei das natürlich positiv besetzte Wort "Mitgefühl" oft damit gleichgesetzt wird. Die Österreicher sind bekannt spendenfreundlich, werden angesichts der aktuellen Tsunami-Katastrophe in Indonesien wohl betroffen sein.

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Biologisch lässt sich Empathie nicht ganz so einfach erklären, wie wir es aus Selbsttests gewohnt sind: Bei Elefanten, Schimpansen, Raben, Mäusen und Ratten kann man zwar ein quasiempathisches Verhalten beobachten, die Fähigkeit zur gefühlvollen Reaktion aufgrund der Situation eines Artgenossen aber mitnichten nachweisen. Der Kognitionswissenschafter Claus Lamm von der Uni Wien meint, dass es da wohl eher um arterhaltendes Verhalten geht. Beim Menschen ist der Nachweis von empathischen Reaktionen auf Mitmenschen schon möglich, aber auch bei ihm gibt es kein wie immer geartetes Zentrum im Gehirn, das man bei Hartherzigen nur einschalten müsste. Da Empathie die Fähigkeit ist, die Gefühlslage anderer Menschen zu erkennen und nachzufühlen, werde im Kopf aktiviert, was auch für die eigenen Gefühle verantwortlich ist, sagt Lamm.

Schmerz empfinden

Wenn man also Schmerz wahrnimmt, dann wird der in die Schmerzverarbeitung involvierte insulare Kortex aktiviert, fühlt man die Freude seines Gegenübers, dann ist der orbitofrontale Kortex aktiv.

Bleibt natürlich die Frage offen: Warum ist das alles so wichtig? Evolutionsbiologen haben eine recht plausible Erklärung für die Entwicklung der Empathie parat: Der Mensch ist gleich nach der Geburt ohne sie nicht lebensfähig und nützt diese passiv erlernte Fähigkeit im Erwachsenenalter, um eine Basis für ein soziales Leben in einer komplexen Welt zu haben.

Empathie ist also eine Voraussetzung für Kooperation, wie auch der Mathematiker und Wissenschaftshistoriker Karl Sigmund bestätigt. In der für die Analyse von ökonomischen, gesellschaftlichen Mechanismen relevanten Spieltheorie müsse man eine Vorstellung davon haben, was der andere Mitspieler als günstig empfindet, sagt er. Sigmund verweist auf das berühmte "Gefangenendilemma", ein mathematisches Spiel: Zwei Menschen werden eines Verbrechens beschuldigt und getrennt voneinander verhört.

"Um hier als Gewinner auszusteigen, muss man voraussagen können, wie sich der andere verhält", meint Sigmund. "Was Menschen für gewöhnlich recht gut zustande bringen." Aber ist Einsicht in das, was andere bewegt, schon Empathie? "Es ist die erste Stufe davon", erklärt der Mathematiker. Erst die nächste Stufe wäre dann: "Ich fühle mit." Denn auch das Gegenteil von Mitgefühl – Neid oder Schadenfreude – setze Einsicht in die Lage des anderen voraus.

Wenn ein kleines Herz fast explodiert vor Freude

Für Claus Lamm gibt es eine breite Palette von Gefühlsregungen als Reaktion auf die deutlichen Empfindungen eines anderen Menschen. Ein Beispiel: Zuschauer lachen, weil sie ein glückstrahlendes, vor Freude hüpfendes Mädchen sehen. Es hat gerade seine Heldin, die ehemalige First Lady Michelle Obama, bei der Vorstellung von deren Memoiren Becoming getroffen? Warum lachen die Menschen im Hintergrund der Szene? Freuen sie sich für das Kind? Oder nur aus ganz einfach Gründen, weil es eine lustige Situation ist?

Bei allen Überlegungen zur Empathie spielt allerdings auch die Politik eine entscheidende Rolle. Der Mensch sei von seinem sozialen Umfeld extrem abhängig, meint Lamm. Als Kind habe er "role models" in seinen Eltern, später suche er sich diese eigenständig – und treffe dabei womöglich auf "Weltenführer", die ihn geschickt manipulieren. Sie würden seine Gefühle ansprechen – freilich auch Gefühle wie Angst vor den Fremden.

Lamm analysiert, Empathie für Menschen in Notsituationen könne zurückgedrängt werden, weil diese als Gruppe wie "die Migranten", "die Flüchtlinge", "die Bezieher von Mindestsicherung" und als Bedrohung des sozialen Friedens im eigenen Land bezeichnet werden. Aus "Refugees welcome!" werde "No refugees!", aus einer überbordenden Hilfsbereitschaft wird Hass. In beiden Extremen könne man emotionale Unreife der Menschen sehen.

Hochrausch des Mitgefühls

2015, als Flüchtlinge in großer Zahl nach Österreich oder Deutschland kamen, waren viele Menschen sehr empathisch. Wo ist dieses Gefühl geblieben? Ist die Moral dieser Zeit verloren gegangen? Man neigt möglicherweise zu einfachen Schlussfolgerungen.

Die Philosophin Herlinde Pauer-Studer von der Universität Wien ist jedenfalls skeptisch, dass Moral auf Gefühlen und auf Empathie gegründet werden kann, denn "ein Hochrausch des Mitgefühls kann jederzeit wieder in die andere Richtung ausschlagen". Als Basis für ein gesellschaftliches Regelwerk würden Gefühle nicht taugen, betont Pauer-Studer, "weil sie nicht verlässlich sind und für politische Zwecke missbraucht werden können".

Für Pauer-Studer ist der vom kanadischen Philosophen David Gauthier vertretene Zugang zur Moral, der an Thomas Hobbes und den schottischen Aufklärer David Hume anknüpft, überzeugender. Moral sei demnach die Summe jener Konventionen, die sich ergeben, wenn wir Einschränkungen unbeschränkter egoistischer Nutzenmaximierung akzeptieren. Unter der Bedingung gesellschaftlich nun einmal gegebener Konkurrenz und Güterknappheit würden Menschen, sofern sie rational agierten, demnach jene Regeln wählen, die ihnen ein Zugeständnis abverlangen, das sie moralisch nicht überfordert.

Eine solch rationale Entscheidung legt Regeln fest, die stabile Kooperationsverhältnisse schaffen, unter denen sich dann Gefühle der Empathie und Nähe zu konkreten anderen Menschen entwickeln können. Auf dem aufgeklärten Eigeninteresse basierende normative Institutionen – neben der Moral betrifft dies auch das Recht – ermöglichen, die natürliche Parteilichkeit der Menschen für ihre eigenen Vorteile auszugleichen. Und in einem solchen Rahmen finden dann auch die Menschenrechte Platz. "Moralische Rechte sind so gesehen normative Parameter, auf die wir uns im Sinne eines gedeihlichen Miteinanders rational einigen", so Pauer-Studer. Und über die jeweiligen Eigeninteressen der Menschen gesicherte moralische Übereinkünfte und Regeln seien in politisch schwierigen Zeiten verlässlicher als Gefühle. (Peter Illetschko, 24.12.2018)