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Rapper Kanye West ist immer für eine Überraschung gut. Heuer verkündete er auf seinem Soloalbum "Ye" offen, mit einer bipolaren Störung geschlagen zu sein.

Foto: AP

Im Juni dachte Rapper Kanye West laut darüber nach, jemanden umzubringen. Er spielte sogar mit dem Gedanken, ob dieser jemand er selbst sein soll. Er tat das nicht in einem seiner Tweets, nicht bei einem Konzert, nicht bei einem Tête-à-tête mit Präsident Trump, sondern in einem Song. Der Track I thought about killing you eröffnet sein aktuelles Soloalbum Ye. Auf dessen Cover steht zu lesen: "I hate being Bi-Polar, its awesome."Das sorgt nach wie vor für Diskussionen.

Die einen meinen, West nutze seine psychische Krankheit, die er selbst als Superkraft bezeichnet, um sein kontroversielles Verhalten, die polarisierenden Texte zu entschuldigen. Andere vermuten eine abgeschmackte Marketingstrategie.Viele sehen in Wests Bekenntnis zu seiner bipolaren Störung aber auch den Versuch einer öffentlichkeitswirksamen Entstigmatisierung des Themas. Fest steht jedenfalls, dass West kein Einzelfall im Popbetrieb ist, wenn es um die Thematisierung der sogenannten Mental Health geht.

Kanye West - Topic

Einen Monat zuvor publizierte der britische Songwriter James Blake einen offenen Brief via Twitter. Es störe ihn, wegen seiner emotionalen Musik von der Kritik als "sad boy" abgestempelt zu werden. Im Angesicht einer

"Epidemie von Depression und Suizid unter Männern" wäre es eine Unverschämtheit, für das Zeigen seiner Gefühle verhöhnt zu werden, so Blake sinngemäß.

Musik wird tendenziell trauriger

Sicherlich dachte er dabei auch an den schwedischen Produzenten und DJ Avicii, der sich ein Monat zuvor das Leben genommen hatte, vielleicht an Linkin Park-Frontmann Chester Bennington, der das zirka ein Jahr zuvor tat. Beide Suizide führten – wie immer wenn junge Stars mit einer Depressions sich das Leben nehmen – zu einer gesteigerter Auseinandersetzung mit dem Thema psychische Gesundheit im Musikgeschäft.Stellt man nun aber die Frage, ob Popmusik selbst inhaltlich "depressiver" geworden ist, ist die Antwort ein ganz klares Jein.

Zwar belegt eine kürzlich erschienene Studie der University of California, dass Popsongs tendenziell trauriger werden – dazu wurden unter anderem 500.000 Songs, die zwischen 1985 und 2015 in den UK-Charts waren, analysiert. Doch ist Traurigkeit nicht gleich Depression. Dass auch letztere immer ein Thema im Pop war, ist bekannt. Künstler wie Billie Holiday, Nick Cave, Radiohead und unzählige andere gehören als von ihren Dämonen geplagte Schmerzensmänner und -frauen zum Inventar. Der depressive Künstler – gibt es ein größeres Stereotyp?

Songtexte als Selbstdiagnosen

Was sich in den letzten Jahren geändert zu haben scheint, ist die Art und Weise, in der über psychische Krankheit gesprochen, gerappt, gesungen wird. Man fühlt sich nicht mehr traurig, kraftlos oder unverstanden, sondern verhandelt die eigene Diagnose. Songtexte sind weniger verklausuliert, statt Bilder zu bemühen (siehe auch: Paint it black von den Rolling Stones), wird immer öfter Klartext gesprochen. Teilweise sogar unter Nennung der verschriebenen Medikamente. So lesen sich manche Stellen schon fast wie Beipackzettel.

Ebenso bemerkenswert ist, dass Mainstream-Popstars von Kesha über Ariana Grande bis zu Selena Gomez – die mit fröhlichen Hits bekannt geworden sind – das Thema Mental Health nicht nur in ihrer Musik sondern auch in Interviews aufs Tapet bringen. Sie sagen Touren ab, wenn es psychisch eben nicht geht und stehen dazu. Wie in allen kontrovers diskutierten Belangen, sei es Geschlechtergerechtigkeit, Diversität und eben auch psychische Gesundheit, spricht sich diese junge Generation recht offenherzig über vormals Tabuisiertes aus.

Sie betreibt eine Art Online-Aktivismus, die das Überwinden von gesellschaftlichen Stigmata mit Pop-Star-Reichweite vorantreiben will. Das prominenteste Beispiel aus jüngerer Zeit ist der Track 1-800-273-8255 des Rappers Logic. Der Titel ist gleichzeitig die Telefonnummer der US-Stelle für Suizidprävention. Am Tag nach der Veröffentlichung der Nummer stieg die Anrufhäufigkeit um 27 Prozent.

LogicVEVO

Self-Care als App-Trend

Schwierig wird es, wo sich unter dem Stichwort Mental Health dann auch Lifestyle-Themen wie der Self-Care-Trend gemütlich machen. Unter dem Begriff, der auf Instagram 10 Millionen Ergebnisse ausspuckt, wird alles von Badezusätzen bis zu Strategien bei Panikattacken subsumiert. Grundsätzlich meint Self-Care nicht viel mehr als seine Gesundheit im Auge zu behalten und bei Zeiten abzuschalten – Handy mitgemeint. Das wird natürlich paradox, sobald das Thema von Apple zum App-Trend 2018 ausgerufen wird.

ArianaGrandeVevo

So wird dann aus dem propagierten "Abschalten" schnell der Download einer Meditationsapp. Doch ist die Beschäftigung mit psychischer Gesundheit natürlich nicht nur eine popkulturelle Tendenz. Sie ist auch Spiegel eines gesteigerten gesellschaftlichen Interesses. So sind zwischen 2006 und 2013 die Ausgaben für Psychopharmaka um ein Drittel gestiegen. Dass die WHO, die sich bis dato primär mit somatischen Erkrankungen auseinandersetzt, 2013 einen eigenen Aktionsplan zu Mental Health vorlegte, unterstreicht einen Paradigmenwechsel im Umgang mit psychischen Krankheiten. Pop kann im besten Fall mithelfen, Aufmerksamkeit für solche Themen zu schaffen. (Amira Ben Saoud, 26. 12. 2018)