Das Euro-Gurkenglas ist halb leer, könnte bei etwas mehr an gutem Willen aber durchaus auch halb voll sein.

Foto: Getty Images/iStockphoto

Die Europäische Kommission, der Internationale Währungsfonds und die OECD prognostizieren, dass die Wirtschaft der EU nächstes Jahr im Schnitt um 1,9 Prozent wachsen wird. Dieser Wert entspricht etwa dem für heuer erwarteten Durchschnittswert von zwei Prozent. Dennoch könnte sich das dadurch gezeichnete Bild als zu optimistisch herausstellen, nicht nur, weil die Wachstumsrate selbst wohl enttäuschen wird, sondern auch, weil nach 2019 erheblicher Abwärtsdruck auf das Wachstumspotenzial der EU besteht – und die europäische Spitzenpolitik derzeit nicht vorbereitet erscheint, diesem Druck effektiv entgegenzuwirken.

Wäre die EU eine Fußballmannschaft, würde sie die Spiele nicht aufgrund mangelnder Taktik oder unzureichender spielerischer Leistung verlieren. Mit einem Ausmaß von beinahe 19 Billionen Dollar bleibt die EU-Wirtschaft die zweitgrößte der Welt und sorgt für etwa ein Fünftel der globalen Wirtschaftsleistung. Das Problem besteht darin, dass die Mannschaft insgesamt nicht geschlossen spielt und jeder Spitzenspieler aufgrund verfahrener Situationen im eigenen Land für sich allein kämpft.

Es wurden kleine Schritte unternommen – wie die Stärkung des gemeinsamen finanziellen Sicherheitsnetzes -, um die EU-Kapazitäten bei der Bewältigung von Problemen zu verbessern. Dennoch bleibt die gesamte Architektur der Wirtschaft unvollständig. Besonders spürbar sind die Probleme in der Eurozone, die vor Herausforderungen wie den langsamen Fortschritten bei der Bankenunion, einer unzureichenden Koordination der Fiskalpolitik und politischen Spaltungen steht.

Kräfte der Zersplitterung

Und diese Kräfte der Zersplitterung werden sich nur noch weiter verstärken. Zunächst werden populistische Parteien und deren Parteichefs in vielen Ländern zunehmend einflussreich, nachdem sie weitverbreitete Ängste im Hinblick auf Identität und Migration in Kombination mit der Frustration über Mainstream-Eliten ausnutzten, um so Unterstützung zu erhalten und sogar an die Macht zu kommen. Doch der Übergang vom Wahlkampfmodus zur Entscheidungsfindung – ob innerhalb eines Parlaments oder, wie in Italien, innerhalb der Regierungskoalition – erweist sich in Ermangelung umfassender politischer Programme für einige der Anti-Establishment-Parteien als schwierig.

In Kombination mit den 2019 anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament erschwert diese zusätzliche Ebene der Unsicherheit die Koordination und Entscheidungsfindung in der gesamten Region, und dies zu einer Zeit, da viele politische Entscheidungsträger ohnehin mit dem bislang ungelösten Thema Brexit beschäftigt sind. Infolgedessen stehen ihnen noch weniger Möglichkeiten zur Verfügung, Hindernisse für das Produktivitätswachstum zu beseitigen und eine dynamischere Wirtschaft aufzubauen, die auf rasche technologische Fortschritte und Veränderungen des globalen wirtschaftlichen Umfelds reagieren kann.

Wenig hilfreich ist auch, dass Europas Liquiditätsumfeld immer weniger unterstützende Wirkung entfaltet. Nachdem die Europäische Zentralbank ihre Ankäufe von Vermögenswerten bereits gedrosselt hat, wird sie dieses massive Konjunkturprogramm nun zurückschrauben. EZB-Präsident Mario Draghi signalisierte, dass bis zum Ende seiner Amtszeit im Oktober 2019 wohl auch noch ein Zinsanstieg folgen werde.

Doch obwohl diese Faktoren die Herausforderung der Zersplitterung für die EU-Wirtschaft zu verstärken drohen, kann selbst ein zerrissenes Team den Sieg davontragen, wenn es seinen Topspielern gelingt, eine starke Leistung zu bringen. Leider sind viele der größten Ökonomien der EU – Frankreich, Deutschland, Italien, Polen, Spanien und UK – durch nationale Probleme belastet, die sich einfachen Lösungen widersetzen und sowohl die nationale als auch die europäische Entscheidungsfindung einschränken.

Da diese Herausforderungen wohl nicht so schnell zu bewältigen sind, werden Europas wichtigste Wachstumsmotoren über das gesamte Jahr 2019 an Schwung verlieren. Und die politischen Bemühungen zur Förderung des längerfristigen Wachstumspotenzials der EU werden wahrscheinlich eher die Ausnahme als die Regel bleiben. Geschehen wird das alles in einem externen Umfeld, das sich sowohl wirtschaftlich als auch finanziell weniger unterstützend präsentiert.

Der Exportmotor der EU ist bereits jetzt nicht mehr stark genug, um die Abschwächung der Wachstumskräfte auf nationaler Ebene auszugleichen. Und die Exporte werden wohl noch mehr leiden, da eine sich verlangsamende chinesische Wirtschaft die externe Nachfrage untergräbt. Unterdessen dürfte sich die Volatilität auf den Finanzmärkten fortsetzen. Dies inmitten eines sich verlangsamenden weltweiten Wachstums, technischer Anfälligkeiten und der Umkehr der monetären Expansion, die Volatilität bremste und zu der ausgedehnte und vorhersehbare Liquiditätsspritzen der Zentralbanken zählten.

Die EU-"Mannschaft" steht also sowohl auf den nationalen Spielfeldern als auch hinsichtlich des internationalen Wettbewerbs vor gravierenden Herausforderungen. Um erfolgreich zu sein, bedarf es politischer Führungspersönlichkeiten, die in der Lage sind, die Öffentlichkeit zu begeistern, und die bereit sind, konsequent Wachstumsinitiativen zu verfolgen. Je länger es dauert, bis derartige Führungspersönlichkeiten auf der Bildfläche erscheinen, desto schwieriger wird es für die EU, den Abstiegskampf zu vermeiden.
(Mohamed El-Erian, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 26.12.2018)