Graham Harman: "Speculative Realism – An Introduction", € 22 /190 Seiten, Polity, Cambridge 2018

Die zeitgenössische Philosophie ist von einer Kluft zwischen zwei Denkströmungen bestimmt, deren Vertreter nicht nur um tiefreichende, philosophische Fragen ringen, sondern völlig profan auch um Lehrstühle, Forschungsgelder und Prestige. Auf der einen Seite steht da die analytische Philosophie, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts, grob gesprochen mit einem Schwerpunkt auf Logik und Sprachanalyse zunächst vor allem im anglo-amerikanischen Raum an Einfluss gewonnen hat.

Auf der anderen Seite des Atlantiks beziehungsweise des Ärmelkanals haben sich hingegen Denktraditionen durchgesetzt, die sich beispielsweise verstärkt auf Erfahrung und Hermeneutik stützen, als die analytischen Philosophen und von diesen abschätzig als "continental philosophy" (der deutsche Begriff Kontinentalphilosophie ist weniger geläufig) bezeichnet worden sind.

Spekulation und wissenschaftliche Fakten

Klarerweise lassen sich diese beiden Lager nicht klar von einander abgrenzen und sind in sich nicht einheitlich zu charakterisieren. Unter den Kontinentalphilosophen hat allerdings im vergangenen Jahrzehnt eine Denkströmung besonders viel Aufmerksamkeit, vor allem weil sie auf Themen gesetzt hat, die üblicherweise vor allem analytische Philosophen bearbeitet haben, der sogenannte Spekulative Realismus.

Dieser Begriff beinhaltet auf den ersten Blick bereits einen Widerspruch in sich und darf durchaus auch als Provokation verstanden werden: Spekulation und Fakten haben ja nicht immer das beste Auskommen miteinander. Freilich schon viel über den Spekulativen Realismus gesagt, geschrieben und publiziert worden, die Neuerscheinung von Graham Harman "Speculative Realism – An Introduction" nimmt dabei aber eine Sonderstellung ein.

Folgenreicher Workshop

Es war ein Philosophie-Workshop am Goldsmiths College der University of London im April 2007, bei dem der Spekulative Realismus gewissermaßen aus der Taufe geworden ist. Die vier Vortragenden des Workshops Ray Brassier, Iain Hamilton Grant, Graham Harman und Quentin Meillassoux gelten folglich als die ursprünglichen Vertreter des Spekulativen Realismus – und das obwohl sich Brassier, der den Begriff einst geschaffen hat, mittlerweile außerhalb der Bewegung positioniert. Harman ist nun der erste des einstigen Quartetts, der der neuen Denkströmung einführendes Buch gewidmet hat.

Darin stellt Harman nicht nur seine eigene Version des Spekulativen Realismus vor, sondern geht im selben Umfang auch jeweils auf die Theorien von Brassier, Grant und Meillassoux ein, wobei er nicht unbedingt zimperlich mit den Gedanken seiner Kollegen umgeht. Das ist freilich etwas unfair, wie Harman auch selbst im Vorwort zugibt, aber für seine Leserinnen und Leser durchaus unterhaltend: Wenn er sich etwa bei Brassier fragt, warum dieser angesichts seiner uneingeschränkten Verehrung für die Kognitionsforschung überhaupt noch als Philosoph betätigt und nicht schon längst Wissenschafter geworden ist.

Harman ist ein mitreißender Autor, nahezu im Plauderton führt er seine Leserschaft in das komplexe Verhältnis der Denker des Spekulativen Realismus mit wissenschaftlichen Fakten und den Naturwissenschaften ein – Bereiche, mit denen sich bislang eher analytische denn kontinentale Philosophen beschäftigt haben. (trat, 28.12.2018)