Sie fällt kaum auf, die kleine Backsteinkirche, die im westlichen Stadtzentrum von Den Haag in eine typisch holländische Reihenhauszeile eingefügt wurde. Orgelmusik dringt durch die schwere Eingangstür, dort hängt ein Zettel mit der Mitteilung: "Wegen besonderer Umstände bitte klingeln."

Die besonderen Umstände sind ein Dauergottesdienst, der nun schon gut zwei Monate anhält: Seit dem 26. Oktober wird in der Bethelkerk ununterbrochen gesungen und gepredigt – sieben Tage die Woche, 24 Stunden lang, also auch nachts. Protestantische und auch katholische Pfarrer aus dem ganzen Land machen mit, unterstützt von Kollegen aus Frankreich, Belgien und Deutschland.

"Inzwischen sind wir mehr als 650", berichtet Pfarrer Derk Stegeman, der seine "Gottesdienstschicht" gerade beendet hat und sich im Aufenthaltsraum ein kopje koffie einschenkt. Dort hängt ein Plan mit den Einsatzzeiten, sodass jeder Pfarrer weiß, wann er an der Reihe ist, damit der Gottesdienst lückenlos fortgesetzt werden kann. "Wir wechseln uns ab – wie bei einem Staffellauf." Nur wird bei diesem Dauergottesdienst kein Staffelholz übergeben, sondern eine Kerze.

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Mit dem Gottesdienst will auch nach zwei Monaten niemand in der Kirche aufhören.
Foto: REUTERS/Eva Plevier

Kein Asyl nach acht Jahren

Auf diese Weise soll verhindert werden, dass die Tamrazyans abgeschoben werden, eine fünfköpfige Familie aus Armenien, die schon 2010 nach Holland geflüchtet ist, deren Asylantrag aber erst jetzt in allen Instanzen abgelehnt wurde. Denn Kirchenasyl können die niederländischen Kirchen anders als in vielen anderen Ländern nur dann bieten, wenn ein Gottesdienst stattfindet. "Der darf von den Behörden nicht gestört oder unterbrochen werden, und dann ist die Familie sicher", erklärt Stegeman. Seit dem 26. Oktober haben die Tamrazyans deshalb keinen Fuß mehr vor die Tür gesetzt. Untergebracht sind sie in der Küsterwohnung.

"Wir vertreiben uns die Zeit mit Lesen und Fernsehen, und wir bekommen viel Besuch", erzählt Hayapri, die älteste der drei Geschwister. Sie spricht fließend Niederländisch und Englisch. 21 Jahre ist sie alt und studiert Ökonometrie. Ihre Schwester ist 19, der kleine Bruder 15. Vor neun Jahren kamen sie in die Niederlande. "Wir sind hier aufgewachsen, das ist unser Zuhause", sagt Hayapri mit Nachdruck. "Hier leben unsere Freunde, hier spielt mein Bruder Fußball, und hier besuchen meine Schwester und ich die Universität."

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Hayarpi Tamrazyan (rechts) ist die älteste der drei Geschwister.
Foto: AP Photo/Peter Dejong

Kein "Kinderpardon"

Zwar kennen die Niederlande ein sogenanntes "Kinderpardon": Minderjährige Asylwerber, die seit mehr als fünf Jahren hier leben, dürfen trotz eines negativen Bescheids mit ihrer Familie bleiben. Doch mehr als 90 Prozent aller Anfragen wurden seit der Einführung dieser Ausnahmeregelung 2013 abgelehnt. Schätzungsweise 400 Kindern droht deshalb so wie den Tamrazyans die Abschiebung. Denn ausschlaggebend ist das Kriterium der Mitarbeit: Haben sich die betroffenen Familien zuvor als kooperativ erwiesen oder gegen ihre Rückkehr oder Abschiebung gesträubt?

Ein Paradox, schimpfen viele Kritiker: Wer hilft schon mit, seine Rückkehr in die Wege zu leiten, wenn er eigentlich bleiben möchte? Ausschlaggebend habe das Wohl der Kinder zu sein, nicht die Rückkehrbereitschaft. Das finden auch die Pfarrer der Bethelkerk: "Es geht uns nicht um einen Machtkampf mit der Regierung, im Gegenteil", betont der Vorsitzende der protestantischen Kirchen von Den Haag, Theo Hettema: "Wir suchen den Dialog, und wir sind auch im Gespräch mit der Regierung. Wir stellen uns nicht über die Gesetze, wir nutzen lediglich den Raum, den sie bieten. Um dafür zu sorgen, dass wir in diesem Land humaner miteinander umgehen. Um das System zu verbessern."

Angst vor rechts

Die niederländische Regierung allerdings hat sich davon bislang nicht beeindrucken lassen: Am Kinderpardon in seiner jetzigen Form werde nicht gerüttet, sagt der rechtsliberale Premierminister Mark Rutte. Seinen größten Koalitionspartner weiß er dabei hinter sich, die Christdemokraten. So wie die Rechtsliberalen haben auch sie Angst, weiter Wähler an Geert Wilders und seine rechtpopulistische Partei für die Freiheit zu verlieren.

Doch inzwischen rührt sich von allen Seiten Widerstand – sogar in den eigenen Reihen: Die beiden kleinen Regierungsparteien der Haager Viererkoalition, die kalvinistische Christenunie und die liberalen D66-Demokraten, plädieren schon seit Jahren für eine humanere Regelung.

Schaden für Kinder

Anfang Dezember haben rund 40 Wissenschafter einen eindringlichen Appell an die Regierung gerichtet. Sie berufen sich auf eine Gesundheitsstudie der Universität Groningen: Sie zeigt, wie schädlich es für Kinder ist, wenn sie Monate, wenn nicht Jahre in Angst leben müssen und dann aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen und in ein Land abgeschoben werden, das völlig fremd für sie ist.

Und der niederländische Dokumentarfilmer Tim Hofman will mit einer Petition dafür sorgen, dass die 400 Kinder bleiben dürfen und sich das Parlament erneut mit dem Kinderpardon befassen muss. 40.000 Unterschriften sind dazu nötig. Zusammenbekommen hat Hofman 250.000. In einem Handkarren, begleitet von viel Applaus, hat er sie vor kurzem dem Abgeordnetenhaus in Den Haag übergeben. "Regeln sind Regeln, sagen die Politiker immer wieder, aber das Schöne an der Politik ist ja, dass Regeln geändert werden können", sagt Hofman. "Wir wissen auch, dass Regeln Regeln sind, aber wir sagen: Macht neue Regeln, an die wir uns halten können."

Die Pfarrer in der Bethelkerk können ihm nur beipflichten. Sie hoffen, dass die Regierung nachgibt. Weihnachten ist doch das Fest der Liebe und Barmherzigkeit. "Aber vielleicht wirkt das gegenteilig", gibt Derk Stegeman zu bedenken. "Vielleicht will die Regierung jetzt erst recht nicht einlenken." Er seufzt. Fest stehe nur eines: "Der Dauergottesdienst geht weiter." (Kerstin Schweighöfer aus Den Haag, 27.12.2018)