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Populisten – von vorn und von hinten: "Jede politische Ökonomie ist auf ihre eigene Weise unglücklich."

Foto: Reuters / Benoit Tessier

Das Jahr 2019 wirft seinen Schatten voraus: Es wird gewählt werden. Wenn man manchen politischen Kommentatoren glauben will, dann wird Europa im Mai über seine Zukunft abstimmen, und wenn sich dabei eine bestimmte Tendenz bestätigt, dann ist es hinterher fast schon egal, ob in dem einen oder anderen deutschen Bundesland bei den Landtagswahlen im Herbst die Alternative für Deutschland stimmenstärkste Partei würde. Denn Europa wäre dann ohnehin schon verloren, und das heißt nicht zuletzt im globalen Systemwettbewerb: die liberale Demokratie.

Über die Demokratie wird derzeit häufig im "Modus der vorgezogenen Grabrede" gesprochen, schreibt der Politologe Philip Manow in seinem neuen Buch über "Die politische Ökonomie des Populismus".

Er widmet sich darin mit dem Sezierbesteck der Sozialwissenschaften und mit präziser Intellektualität dem Phänomen, das die Demokratie in den letzten Jahren beschäftigt wie kaum ein anderes: Viele Menschen wählen neuerdings wieder Politiker, die wenig für die Demokratie übrighaben, die häufig nicht einmal ihre Interessen vertreten, die de facto Korruption befördern und die es nicht so mit Wahrheit, Transparenz oder Rechenschaft haben, sondern lieber mit "message control".

Drei Deutungsmuster

Über die Ursachen für die Welle des Populismus in vielen Ländern, denen es eigentlich im weltweiten Vergleich gut oder zumindest besser als in der Vergangenheit geht, rätseln die Forscher und die Öffentlichkeit spätestens seit dem Wahlsieg Donald Trumps in den USA. Manow sieht drei geläufige Deutungsmuster: eine Empörungsthese, eine Modernisierungsverliererthese und eine Spaltungsthese.

Populismus wäre demnach entweder in erster Linie Protest (wobei dann aber auch erst zu bestimmen wäre, wogegen genau) oder Sanktion (von Menschen, die mit der Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft nicht mitkommen), oder er wäre Symptom einer kulturellen Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern von Globalisierung, sozialer Differenzierung und ökonomischer Flexibilisierung.

Alle diese Deutungen haben für Philip Manow, der in Bremen Politikwissenschaften lehrt, den Nachteil, dass sie zu wenig auf die ökonomischen Faktoren achten und dass sie zu wenig zwischen den einzelnen Ländern unterscheiden: "Es gilt das Anna-Karenina-Prinzip", schreibt er pointiert. "Jede politische Ökonomie ist auf ihre eigene Weise unglücklich."

Mit diesem Befund geht Manow dann sogar noch weiter, indem er für einzelne Länder auf stellenweise fulminante Weise, dabei aber immer mit nachvollziehbaren sozialwissenschaftlichen Vorgehensweisen die "Verletzungsprofile" herausarbeitet. Der türkische Harvard-Ökonom Dani Rodrik, der zuletzt immer stärker als intellektuelle Eminenz für konstruktive Auseinandersetzungen mit dem Populismus entdeckt wurde, steht auch bei Manow als wichtiger Ideengeber Pate.

Angefochtene Sozialstaaten

Italien und Deutschland sind aus naheliegenden Gründen besonders spannend. "Unterschiedliche Kapitalismen erklären unterschiedliche Populismen." Die entscheidenden Faktoren sind auch für Menschen ohne detaillierte volkswirtschaftliche Expertise durchaus nachvollziehbar: Migration als das zentrale Thema der letzten drei Jahre trifft in Deutschland auf einen ausgeprägten Sozialstaat, der zudem nicht klientelistisch verfasst ist, also prinzipiell allen Teilnahmeberechtigten offensteht.

Der Sozialstaat dient in erster Linie dazu, Verlierer von Prozessen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu entschädigen. Diese "außenwirtschaftliche Kompensationsfunktion" des Sozialstaats spielt in Italien eine viel geringere Rolle. In der EU sieht Manow zwei "zwangsvereinte Wirtschaftsmodelle", die derzeit durch Deutschland (und Österreich) einerseits und Italien (und kaum mehr durch das ohnmächtig gemachte Griechenland) vertreten werden. Der Streit um das italienische Budget bringt die Fronten klar hervor.

Für Manow liegt der springende Punkt für rechte Populismen in Europa dort, wo starke, aber angefochtene Sozialstaaten auf Migration reagieren müssen: Linke Parteien stecken dabei in dem Dilemma, dass sie zwei unvereinbare Prinzipien aufrechterhalten wollen – einen universalistischen Menschenrechtshumanismus und einen Wohlfahrtsstaat, der national organisiert ist.

Den daraus resultierenden Klärungsbedarf, welche Leistungen für welche Gruppen nach welchen Kriterien zugänglich sein sollten, beuten Populisten aus. Manow macht dabei besonders eindringlich deutlich, worin die Probleme der Agenda 2010 liegen: Sie garantiert Grundsicherung, schützt aber nicht vor Statusverlust.

Die Größe dieses schmalen Buchs liegt sowohl in der Architektur wie in vielen konkreten Schlussfolgerungen: Die politische Ökonomie des Populismus ist tatsächlich immer wieder eine andere, je nachdem, welchen Horizont man anlegt.

Global gesehen wurde eine linkspopulistische Welle in Lateinamerika derzeit durch eine rechtspopulistische in Europa abgelöst, innerhalb Europas wiederholt sich diese globale Konstellation aber in einer Nord-Süd-Auseinandersetzung, die wiederum innerhalb Italiens und im Grunde sogar innerhalb der dort gerade regierenden Koalition einen Spezialfall hat. Manow gibt nicht alle Antworten, aber einen Schlüssel, der nicht zuletzt das Wahljahr 2019 öffnen hilft. (Bert Rebhandl, 29.12.2018)