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Sich ohne Alkohol zu amüsieren muss gelernt sein: Jerry Hall und Andy Warhol in den 70ern in New York.

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Jamisons Karriere als Trinkerin begann mit elf, als sie an einem Glas Champagner nippte und die 'wohlige Wärme spürte'. Sie war in 'behüteten' Verhältnissen aufgewachsen ...

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"Sich ohne Alkohol zu amüsieren, muss erlernt werden", schreibt die amerikanische Autorin und ehemalige Trinkerin Leslie Jamison in ihrem Bestseller Die Klarheit. Und in einem Land wie Österreich – "Oans, zwoa, gsuffa!" – kann man sich Amüsement ohne Alkohol praktisch nicht vorstellen, in jeder Dorfküche hängt der Spruch: "Drei Tage war der Vati krank, jetzt sauft er wieder, Gott sei Dank."

Schon als ich in der Schülermannschaft meines Heimatvereines Fußball spielte (alle waren wir unter 14 Jahre alt), brachte uns der stets angedüdelte Trainer bei einem knappen 0:5-Rückstand zur Pause eine Kiste Bier in die Kabine, am Ende schafften wir ein "glückliches" 0:16. Und das gegen Molln! Danach gingen wir wahrscheinlich zu irgendeinem Maibaumumschneiden und ließen uns von einer rustikalen Kellnerin mit Schnaps trösten, Holladiödülliö. Neben meinem Elternhaus lag eine Jausenstation, und dort Bier aus dem Keller zu holen und Zigaretten aus der Lade, war keine Mutprobe, sondern Alltag. In der Dorfdisco schließlich war Bier für uns Jugendliche nicht verboten, sondern billiger. Die Wirtsleute galten als geschäftstüchtig.

Der kleine Exzess im Repertoire

Meinen 39. Geburtstag feierte ich schließlich an einem Faschingsdienstag in einem Lokal, bei dem ich irgendwann einmal im Eingang gelegen war. Dort sprang einer auf mich drauf, dessen heiße Lady ich zuvor unerlaubterweise angesprochen hatte – die guten Zeiten! Schließlich war ich da längst im Wiener Umfeld von Kunst, Medien und freien Berufen gelandet. Und da gehörte der kleine Exzess nicht nur zum Repertoire, man musste sich im Gegenteil sogar dafür entschuldigen, wenn man am Abend einmal zu lange geradeaus schauen konnte.

Jack London, der den Klassiker König Alkohol schrieb, machte beim Saufen zwei unterschiedliche Gruppen aus: diejenigen, die durch die Gosse wanken und von blauen Mäusen halluzinieren. Und diejenigen, die "das weiße Licht des Alkohols" zu "fantasiebegabten Trinkern macht. Ich zählte mich natürlich zu Letzteren. Aber selbst Alfred Hrdlicka musste seinen Wodka im Schwarzen Kameel auf Geheiß seines Galeristen verdünnt in sich hineinschütten, und schon Marguerite Duras, selbst zeit ihres Lebens eine zunehmend verzweifelte Säuferin, schrieb über die Illusion trunkener Kreativität: "Die Trunkenheit erzeugt gar nichts, der Alkohol schafft nichts von Dauer."

In ihren schlimmsten Jahren

Darüber mag man streiten, wenn man an Werner Schwab denkt oder an all die anderen, die uns im Rausch Großartiges hinterlassen haben, zum oft sehr hohen Preis ihres viel zu frühen Todes freilich. Duras hatte aber auch das Pech, als Frau zu saufen. Weibliche Trunksucht wurde gern als hysterisches Scheitern am Leben insgesamt gedeutet, "eine trinkende Frau", schrieb Duras, "das ist, wie wenn ein Tier ein Kind tränke". Malcolm Lowry, der 1947 mit Unter dem Vulkan eines der bekanntesten Säuferbücher überhaupt veröffentlichte, sprach Frauen sogar ab, jemals so bedeutsam trinken zu können wie ein Mann.

Vielleicht meinte er damit Kollegen wie Dylan Thomas, John Cheever, William Faulkner, Ernest Hemingway, Raymond Chandler oder Raymond Carver, wobei Letzter einmal schrieb: "Natürlich existiert ein Mythos, der mit dem Trinken einhergeht, aber der hat mich nicht beschäftigt. Das Trinken allein hat mich beschäftigt." In seinen schlimmsten Jahren, weiß Jamison, versoff er zumindest sein ganzes Monatsgehalt. Und als er nach unzähligen Anläufen endlich nüchtern war, schrieb sein Lektor alles um, was er ihm lieferte. Nüchtern wollte er ihn nicht haben.

Jetzt ist aber wirklich Schluss!

Der auf meinen Geburtstag folgende Aschermittwoch brachte die üblichen Schmerzen vom Nacken hinauf bis zur Schädeldecke, denen ich mit Alka-Seltzer begegnete. Der Scham begegnete ich mit dem Üblichen: Jetzt ist aber wirklich Schluss! Diesmal wollte ich gleich bis Ostern gar nichts mehr trinken, die volle Fastenzeit durch, und nur für mich formulierte ich einen kleinen, lichten Ausblick: Am Ostersonntag dafür wieder so richtig!

Meine Ankündigung, auf Nancy Reagans bewährten Rat hin in Zukunft einfach No! zu sagen, erntete nichts als ungläubiges Lachen, denn – so viel konnte ich nun über mich in Erfahrung bringen – längere Zeit nichts getrunken hatte ich damals schon sehr lange nicht mehr, im Gegenteil. Aus meinen trüben Erinnerungen ließ sich rekonstruieren, dass mir Schnaps überhaupt nicht gutgetan hatte (weil er mich übertrieben streitlustig machte) und die Kombination aus Biergarten und heißem Sommernachmittag für meine Seele die schlimmste war. Malcolm Lowry lässt seinen "Konsul", der sich in der glühenden Hitze Mexikos zu Tode säuft, sagen: "Er hatte die Sonne verloren: Es war nicht seine Sonne." Und die 35-jährige Jamison selbst weiß von jener "kosmischen Traurigkeit", die jeden Rausch begleiten kann.

Die Lösung für vielleicht alles

Warum trinkt man trotzdem? Wäre Alkohol nicht giftig, dann wäre er die Lösung für vielleicht alles. Jamisons eigene Karriere als Trinkerin begann mit elf, als sie an einem Glas Champagner nippte und diese "wohlige Wärme spürte". Sie war in "behüteten und bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, aber was heißt das schon? Später studierte sie Kreatives Schreiben in Iowa City, wo auch Carver unterrichtete und "wo ich weder dramatisch noch ausgeprägt viel trank, sondern wo der Alkohol eine unausweichliche Begleiterscheinung meines Alltages war". Irgendwann soff sie sich mit Vorsatz bis zum Filmriss und konnte die "hunderten Toiletten", vor denen sie gekniet war und ihr Innerstes herausgekotzt hatte, nicht mehr zählen. Verlangen, Konsum, Wiederholung, so lautet der Kreislauf des Säufers.

Den Beginn ihrer Trunksucht führt sie auf ihre "Unsicherheit und Schüchternheit" zurück, "auf Zweifel und Ängste". Und mal ehrlich: Wer rechnet schon, während man warm eingewickelt an der Mutterbrust nuckelt, mit all den Demütigungen, Zurückweisungen und dem ganzen anderen Kram, der im Laufe eines Lebens auf einen wartet? Von den Rechnungen, die man oft nicht bezahlen kann, gar nicht zu reden! Da soll man sich nicht wegschießen?

Der Opiumesser Thomas De Quincey schrieb 1821: "Was war es denn, was mich dazu macht? Elend, völlige Verlassenheit, bleibende, beständige Dunkelheit." Und Sam Cooke singt: "It's been too hard living, but I'm afraid to die." Jean Rhys, Autorin und ebenfalls Säuferin wie Duras, beschrieb ihre Strategie gegen die empfundene Leere des Lebens so: "Es war erstaunlich, wie bedeutungsreich und verständlich alles wurde nach einem Glas Wein auf nüchternen Magen." Für David Foster Wallace, der sich dann trotzdem umbringen sollte, war das Saufen schlicht "das fehlende Stück Puzzle des Innenlebens". Und natürlich: In einer griechischen Taverne unter dem sommerlichen Sternenhimmel bei ein paar Flaschen Wein können sich tatsächlich einmal alle Puzzleteile des Lebens zusammenfügen, wenn man auch noch Sternschnuppen sieht.

Tadel und Rückfälle

Andererseits umfassen die Erzählungen von Säufern nicht nur den herrlich angedüdelten Blick hinauf zum Sternschnuppenhimmel, sondern irgendwann auch das Zittern der Hände, die einen das Glas nicht mehr halten lassen, oder die Verstecke und Depots, in denen man den Schnaps bunkert. Bis dahin ist es oft ein langer Kampf, so wie bei Marguerite Duras, die an ihren Arzt schrieb: "Ich trinke nicht mehr. Ich werde wahnsinnig, wenn ich damit weitermache." Nur um ihm zwanzig Jahre später resigniert zu schreiben: "Bitte tadeln Sie mich nicht wegen meiner Rückfälle. Ich halte es nicht mehr aus, mir Schuldgefühle wegen der Trinkerei machen zu lassen."

Physikalisch, so viel weiß die Forschung längst, funktioniert Sucht über Botenstoffe und deren Rezeptoren, was erklärt, dass es nicht jeden erwischt beziehungsweise nicht jeden gleich stark. Die sich aus dem Konsum der Droge entwickelnde Gier danach beschreibt Gabor Maté in seinem Buch In the Realm of Hungry Ghosts als die "Suche nach etwas außerhalb seiner Selbst, das den unstillbaren Appetit nach Erleichterung oder Erfüllung befriedigen soll". Alkohol entspannt, aber bei Jamison selbst führte die Gier schließlich zum vollständigen Kontrollverlust auf ihrer Matratze, auf der sie die letzten Jahre ihrer Säuferkarriere am liebsten und allein getrunken hatte. Bis sie eines Tages bei den Anonymen Alkoholikern saß: "Ich heiße Leslie Jamison und ich bin anonyme Alkoholikerin."

Was ist denn mit dir los?

Der Gründer der Anonymen Alkoholiker (AA), Bill Wilson, steht exemplarisch für viele Suchtkarrieren, 1939 veröffentlichte er Das Blaue Buch, noch heute Grundlage seiner "Idee" der Suchtbekämpfung. Darin beschreibt er sich als erfolgreichen Börsenmakler, der sich und seine Geschäfte mit Gin befeuerte, bevor er nach dem Börsencrash die Leere der Arbeitslosigkeit mit Alkohol zuschüttete. Die Idee der AA ist reden, vor allem: den anderen reden lassen. Es gibt dort keine Ratschläge, keine Tipps, kein "Wird schon werden, wenn du dich zusammenreißt!". Es gibt nur die Geschichten der Betroffenen, und in den meisten Fällen hat jeder Alkoholiker die Erfahrung eines anderen in zumindest ähnlicher Weise selbst schon gemacht. Zum Beispiel die von Jamison: "Wenn ich betrunken war, ging es immer um richtig viel." Und auch Duras beschreibt diese "Idee, dass das, was du sagst, noch nie jemand gesagt hat".

Jamison brauchte dann viele Anläufe, bis sie vor acht Jahren endgültig aufhörte zu trinken. Nach Phasen der Abstinenz redete sie sich ein, dass sie kein Problem damit hätten, nichts zu trinken, und genau deswegen ja gar nicht darauf verzichten müsse. Im Blauen Buch der AA steht dazu: "Jeder abnorme Trinker ist von dem Wahn besessen, er könne irgendwie, irgendwann sein Trinken kontrollieren und genießen."

Nachdem ich eine Woche lang nichts getrunken hatte, lichteten sich bei mir langsam die Schleier, und mein Körper erholte sich. Nüchtern betrachtet war ich ganz schön schwammig geworden, darum kaufte ich mir einen Hometrainer, die ersten Pedaltritte waren eine Tortur. Andererseits ging es langsam in den Frühling hinein, und es kam allmählich Kraft in die Wadeln zurück. Ich sah die Sonne wieder und hörte die Vögel, ich konnte die Natur wieder riechen und das Essen wieder schmecken. Nachts wälzte ich mich nicht mehr in schweißnassen Tüchern, und nachmittags bestellte ich mir kein Bier mehr im Seidelglas, auf das ich umgestiegen war, als ich mir irgendwann vorgelogen hatte: Im kleinen Bier ist weniger Alk drin als im großen. Aber in zehn kleinen Bieren?

Das Saufen macht einen weich

Bis Ostersonntag hatte ich längst gemerkt, dass ich kein Alkoholiker war, sondern nur schlecht mit Alkohol. Ich verspürte absolut keine Lust mehr, mein Experiment mit dem geplanten Vollrausch zu beenden, im Gegenteil: So wie der Herr Jesus Christus nach seinen Tagen oben am Kreuz fühlte ich mich ... wie auferstanden. Ich schöpfte Kraft daraus, etwas geschafft zu haben, was ich mir nicht einmal selbst mehr zugetraut hatte. Das Saufen macht einen nämlich tatsächlich ganz schön weich. Nicht nur das Bindegewebe leidet, sondern auch die Seele oder was auch immer da in so einem Körper drinsteckt.

Natürlich klingt es pathetisch, wenn Jamison schreibt, dass sie "die trunkene Hemmungslosigkeit und Selbstvergessenheit" eingetauscht hat gegen eine "andere Art von Freiheit" – und jetzt sage niemand etwas gegen "trunkene Hemmungslosigkeit und Selbstvergessenheit"! Aber genauso war es auch bei mir. Wenn ich nun jemanden auf der Straße traf, den ich ehedem größter Brummbär nun strahlend anlachte, dann hörte ich nicht selten: "Was ist denn mit dir los?" Eingeweihte, die mit mir in jenem Lokal Geburtstag gefeiert hatten, in dem ich schon mal auf dem Boden lag, sahen in mir einen "neuen Menschen", wenn nicht gar "den Auferstandenen". Ich hörte Sätze wie: "Dich erkennt man ja gar nicht wieder."

Jamison, so gesteht sie selbst, neigt zum Drama, und sie nennt "ewige Selbstreflexion" ihre größte Schwäche. Sie ist Amerikanerin, darum finden auch "Beten" und die Reflexion breiten Raum in ihrem 600-Seiten-Buch, in dem sie zum Thema Alkohol wirklich nichts auslässt. Von der strafrechtlich-gesellschaftlichen Betrachtung bis hin zu ungezählten Schilderungen ihrer Abstürze folgen wir ihr auf dem Weg zur "nüchternen Identität", die sie wie ein "vollkommen neues Organ" empfindet. Mit diesem machte auch sie die interessante Erfahrung, plötzlich "Autorität" zu sein: Wenn man nicht trinkt, dann fragen einen überraschend viele, wie "es" denn gehen würde, damit aufzuhören. Und man hört plötzlich Geschichten von Leuten, die selbst zwei bis drei Flaschen guten Weines am Tag "wegmachen", aber natürlich überhaupt kein Problem damit haben. (Manfred Rebhandl, 29.12.2018)