"In der Gegenwart dient das Label 'christlich-jüdische Leitkultur' vor allem der Abgrenzung zum Muslimischen. Die deutsch-christliche Position will definieren, wer dazugehört ...", meint Max Czollek.

Stefan Loeber

Czollek möchte in seiner Streitschrift Schluss mit dem Integrationstheater machen: "Das nächste Mal werden vielleicht zuerst die Moscheen brennen, aber dann brennen auch wieder die Synagogen."

STANDARD: Ihr Buch "Desintegriert Euch!" findet sich auf Amazon in recht skurrilen Bestenlisten wieder. Unter anderem "Drittes Reich".

Czollek: Ich war in der Kategorie "Drittes Reich" vor Anne Frank. In der Kategorie "Heiliger Krieg und Islam" bin ich noch immer Bestseller. Ich finde das witzig.

STANDARD: Die jüdische Identität war heuer ein zentraler Punkt in der Debatte zwischen Jan Böhmermann und dem jüdischen Autor Oliver Pollack.

Czollek: Ich denke, bei der Diskussion ging es darum, was es bedeutet, sich selbst als Jude zu bezeichnen und von außen so bezeichnet zu werden. Pollack hat mit seiner Show Ich darf das, ich bin Jude gesagt: Ich performe den Juden, und das behalte ich in der Hand. Aber sobald das Teil der öffentlichen Wahrnehmung wird, wird es zu etwas, was Böhmermann einen "Unique Selling Point" nennt – also die Verkaufbarkeit und Vermarktbarkeit der jüdischen Position. Natürlich gibt es auch eine Vermarktbarkeit der Überlebendenposition.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Czollek: Nehmen wir beispielsweise das Theaterstück Die letzten Zeugen von Doron Rabinovici. Da sitzen dann ein paar Hundert nichtjüdische Deutsche im Theater und gehen nach der Show ganz kathartisch erlöst aus dem Theater und sind froh, einmal wieder eine Holocaust-Geschichte gesehen zu haben. Die Shoah gehört zu den großen emotionalen Knöpfen im Theater. Zusammen mit der unglücklichen Liebe.

STANDARD: Soll der Holocaust nicht mehr künstlerisch aufbereitet werden?

Czollek: Die Frage ist, wie. In Deutschland sind Holocaust-Geschichten immer kathartische Geschichten, weil die Erzeugung des deutschen Selbstbilds eng mit der Abgrenzung von der Shoah verbunden ist. Aber das Problem reicht noch weiter. Theodor W. Adorno hat geschrieben: "Ein Gedicht nach Auschwitz zu schreiben ist barbarisch." Das Erlebnis gelungener Kunst ist eine Form von Genuss. Das ist nicht nur bei diesem Thema ein Problem.

STANDARD: Das macht es für Künstler schwierig. Sie müssten Kunst produzieren, die keinen Genuss bringt.

Czollek: Zumindest muss man dorthin gehen, wo es wehtut: nicht Vergangenheitsbewältigung, sondern Gegenwartsbewältigung. Wo finden sich die Menschenverachtung, die Fantasien völkischer Reinheit heute? Wo ist die Nazigewalt in unserer Sprache? Das geht uns alle etwas an. Dem können wir uns nicht entziehen, indem wir sagen, die bösen Nazis und armen Juden damals – und wir als geläuterte Deutsche und überlebende Juden heute. Diese Abgrenzung von der Vergangenheit muss aufhören. Wir brauchen mehr Desintegration.

STANDARD: Was meinen Sie mit Desintegration?

Czollek: Desintegration wurde aus einer jüdischen Perspektive entwickelt. Der Begriff bezeichnet den Versuch, der Funktionalisierung für eine Konstruktion einer geläuterten deutschen Position zu entkommen. Denn diese Funktion erfüllen wir nicht. Der Zug ist abgefahren, und es saßen Deutsche im Schaffnerhäuschen. Darüber hinaus wird die Zugehörigkeit in Deutschland über ein Integrationsparadigma bestimmt. Also betrifft die Desintegration auch die Position von Migranten, die als "gute" und "schlechte" Migranten das Selbstbild stabilisieren helfen sollen. Diesen Sommer ist deutlich geworden, was mit Integration eigentlich gemeint ist.

STANDARD: Die Diskussion um Mesut Özils Rücktritt aus der deutschen Fußballnationalmannschaft?

Czollek: Ja. Besonders die daran anschließende Debatte um Alltagsrassismus. Özil war es leid, dass immer wieder infrage gestellt wurde, ob er loyal gegenüber Deutschland ist. Dass er zuvor ein Foto mit einem Diktator gemacht hatte, ist dabei nicht entscheidend. Bei Uwe Mundlos, Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt wird wegen der NSU-Morde auch nicht ihre Zugehörigkeit zu Deutschland bezweifelt. Dass diese Zugehörigkeit bei Özil infrage gestellt wird, hängt eng mit dem Integrationsdenken zusammen. Dieses Denken bestimmt, welche Menschen in Deutschland eine Bringschuld haben.

STANDARD: Bringschuld?

Czollek: Die äußert sich in dem Aufruf, sich zu integrieren, und betrifft noch Menschen, die in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland leben. Wenn du beispielsweise Mohamed oder Aisha heißt und dein Aussehen nicht der rassistischen Vorstellung von deutschem Aussehen entspricht, musst du das ständig beweisen. Man könnte das als "völkisch 2.0" oder neovölkischen Zustand bezeichnen.

STANDARD: Ist die Angst vor Parallelgesellschaften allgegenwärtig?

Czollek: In Deutschland kann man sich auf politischer Ebene eigentlich nur zwei Möglichkeiten vorstellen: Volksgemeinschaft oder Parallelgesellschaft. Entweder das harmonische Zusammenleben oder das Auseinanderfallen der Gesellschaft in unterschiedliche Gruppen. Das erzeugt riesige Probleme, weil die gesellschaftliche Realität natürlich dazwischen stattfindet. Deutschland ist eine plurale, diverse Gesellschaft.

STANDARD: Die christlich-jüdische Leitkultur kommt in Ihrem Buch nicht gut weg.

Czollek: In der Gegenwart dient das Label "christlich-jüdische Leitkultur" vor allem der Abgrenzung zum Muslimischen. Die deutsch-christliche Position schwingt sich dabei auf zu definieren, wer dazugehört – und wer nicht. Das zeigt sich auch an dem Umgang mit Juden und Jüdinnen. Die sind zu über 90 Prozent migrantisch. Aber wenn von Integration die Rede ist, wird nie über Juden geredet. Weil sie plötzlich per Definition zu Deutschland gehören. Ich finde, dass dahinter ein arroganter und unlauterer Versuch steht, den Charakter der deutschen Gesellschaft von der deutsch-christlichen Position aus zu bestimmen.

STANDARD: Sie sagen, dass die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 2006 der nationalistische Dammbruch war. Was meinen Sie damit?

Czollek: In meiner Jugend lernte ich, dass man Deutschland-Fahnen und nationalen Symbolen mit Skepsis begegnet. Im Jahr 2006 bejubelten dann auch Leute in meinem direkten Umfeld, dass sie endlich wieder die Fahnen raushängen durften. Schauen wir uns den Satz "Jetzt dürfen wir endlich wieder" genauer an. "Dürfen" bedeutet, dass jemand es vorher verboten hat, die Fahne rauszuhängen; "endlich" impliziert eine Erleichterung, dass man das also eigentlich schon immer gewollt hat; und "wieder" ist das Abgründigste in dieser Aussage, denn wann war das denn das letzte Mal so, dass man stolz Nationalsymbole aus dem Fenster hängen konnte?

STANDARD: Viele wollen sich den Nationalismus nicht von den Rechten wegnehmen lassen.

Czollek: Die Idee, es gebe einen positiven Nationalismus, hat sich als Täuschung herausgestellt. Nachdem die AfD mit ihrem neovölkischen Programm in den Bundestag eingezogen ist und Erfolge feiert, muss sich eine deutsche Gesellschaft eingestehen: Man hat sich 2006 geirrt. Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung vergleicht Deutschlands Beziehung zum Nationalismus mit einem trockenen Alkoholiker. 2006 hat man an einer Mon-Chérie-Praline genuckelt – und jetzt sind wir schon wieder bei einer Korn-Flasche am Tag.

STANDARD: Sie schreiben in Ihrem Buch "Desintegriert Euch!": Wer sich ein Deutschland ohne Muslime wünscht, wünscht sich auch ein Deutschland ohne Juden. Warum hängt das zusammen?

Czollek: Ja, weil das alles Hand in Hand geht. Thilo Sarrazins genetische und biologistische Argumentation war: Die Juden haben kluge Gene, deshalb ist es in Ordnung, wenn sie hier sind. Die Muslime haben Proll-Gene. Weil sie eben dumm seien, brauche Deutschland sie nicht. Ich sage dazu: Das nächste Mal werden vielleicht zuerst die Moscheen brennen, aber dann brennen auch wieder die Synagogen. Es ist eine Illusion, dass die jüdische Minderheit dauerhaft unberührt bleibt, wenn eine Stimmung der Feindseligkeit gegenüber Minderheiten die Gesellschaft beherrscht.

STANDARD: Welche Rolle könnte Hip-Hop als Kunstrichtung bei der Desintegration einnehmen?

Czollek: Die Funktion von deutschem Battle-Rap, also der politisch inkorrektesten Rapform von allen, ist doch die Übertreibung der Inversion diskriminierender Zuschreibungen: "Ihr habt Angst vor dem migrantischen Unterschichtsmann? Zu Recht! Wir sind noch viel gefährlicher, als ihr denkt." Rap ist häufig die Performance einer Angstfigur, die sagt: "Wir sind euer Albtraum." Das finde ich spannend.

STANDARD: Stereotype spielen im Rap eine sehr große Rolle. Überstarke migrantische Männer, Frauenfeindlichkeit, Kriminalität. Ist das nicht auch alles zu hinterfragen?

Czollek: Man sollte das nicht glorifizieren. Rap ist eine Kunstform, die auch ein Symptom ihrer Gegenwart ist, mit all der Diskriminierung, die die Gegenwart strukturiert.

STANDARD: Eine Kunstform, die den deutschen Musikpreis auf dem Gewissen hat.

Czollek: Richtig. Der bislang größte Erfolg, den Battle-Rap vorzuweisen hat. Wenn Kollegah rappt "Mein Körper ist definierter als der von Auschwitz", ist das vor allem geschmacklos. Wenn er in seinem Track Apokalypse von der jüdischen Weltverschwörung raunt und den Teufel mit Davidstern porträtiert, ist das klar antisemitisch. Kollegah ist vielleicht Antisemit, sicherlich aber ein rechter Opportunist und deshalb vollkommen uninteressant für die Desintegration. Der Frankfurter Rapper Haftbefehl ist da zum Beispiel viel spannender.

STANDARD: Auch Haftbefehl wurde schon auf antisemitische Strukturen in seinen Texten angesprochen.

Czollek: Das wundert mich gar nicht. Antisemitismus ist eine Normalität in dieser Gesellschaft. Haftbefehl bildet in seinen Texten ab, wie es ist, als Jugendlicher in Offenbach in Deutschland aufzuwachsen. Und dazu gehört, dass er antisemitische Bilder von Juden verinnerlicht hat. Ich glaube ihm, dass er sich seitdem ernsthaft um Selbstaufklärung bemüht.

STANDARD: Was darf Kunst?

Czollek: Kunst ist nicht das Gleiche wie Politik. In der Kunst kann ich beispielsweise sagen, dass ich es falsch finde, dass Juden keine Rache an den Deutschen genommen haben. Dass hier noch Rechnungen offen sind. Für diese Darstellung muss ich über die Rolle hinaus, die Juden und Jüdinnen in der Öffentlichkeit zugewiesen wird. In der Politik geht das nicht zu sagen: Wir sind keine guten Opfer, wir sind böse Opfer. Aber damit fängt die Desintegration an. Darum ist Desintegration immer auch Kunst. (Interview: Andreas Hagenauer, 29.12.2018)