Das Kultur- und Gedenkjahr 2018 verlief debattenreich: #MeToo wurde breit diskutiert, Zeitgeschichte stand im Fokus, Künstler agierten so politisch wie lange nicht mehr. Die Highlights und Tiefpunkte des Kulturjahres in jeweils fünf Punkten:

FILM

1. Glücklich wie Lazzaro Ein Film, der uns die Fehlerhaftigkeit der Gegenwart durch einen Toren neu sehen lässt: Meisterwerk von Alice Rohrwacher.

2. Phantom Thread / Der seidene Faden Liebe, die sich so hartnäckig erweist wie eine feste Naht. Paul Thomas Andersons prächtige Maßarbeit.

3. Waldheims Walzer Ruth Beckermann ging ins Archiv und kam mit einem klugen Film über die Aktualität des Vergangenen heraus.

4. Alles ist gut Bestes Debüt des Jahres: Eva Trobischs souveräner Film über die Nachwirkungen einer Vergewaltigung. Mit der wunderbaren Aenne Schwarz.

5. Roma Alfonso Cuaróns Ode an die Hausmädchen seiner Kindheit in Mexiko-Stadt. Plansequenzen und kompositorische Übersicht – und das für Netflix.

POP

1. Hyäne Fischer Subversion durch Affirmation. Pop als Fake als vaterländisches Unternehmen. Ab zum Song Contest!

2. Laibach Die alten Subversions- und Totalitarismus experten trieben es heuer mit The Sound of Music auf eine späte Spitze.

3. Helene Fischer Die aus Sibirien stammende Schlagergöttin sang in ihrer Weihnachtsshow Laras Lied aus Dr. Schiwago. Subtile Russland-Kritik. Die Frisur hat gehalten.

4. Janelle Monáe Sein Name war Prince – und er war funky. Die US-Sängerin liefert mit Dirty Computer eine ultramoderne Hommage an den 2016 verstorbenen Star.

5. Banksy Vielleicht der größte Popmoment 2018 im Geiste des Punk: ein eigenes Kunstwerk nach einer Versteigerung schreddern. Der Kunstmarkt hat gehalten.

THEATER

1. Apollon, von und mit Florentina Holzinger und ihren Musen. Balanchines Ballettvorlage mit Fleischwunden und Bullenreiten. Bei Impulstanz.

2. Glaube Liebe Hoffnung, verfinstert von Michael Thalheimer an der Wiener Burg: Der Abend überzeugte auch dank Andrea Wenzl als Elisabeth.

3. Aufstand der Unschuldigen von Ali M. Abdullah und Ensemble, im Werk X, Wien. Linke-Blase-Menschen wachen auf und können nicht fassen, was politisch gerade passiert.

4. Die Perser, bei den Salzburger Festspielen von Ulrich Rasche als choreografisches Stampf- und Maschinentheater inszeniert. Aischylos im Rausch.

5. Die Revolution frisst ihre Kinder!, von Jan-Christoph Gockel und Ensemble, Schauspielhaus Graz. Die Fake-Doku eines Theaterprojekts in Burkina Faso. Sie stellt sich allen Fallen des postkolonialen Diskurses.

BELLETRISTIK

1. Christoph Hein erzählt im Ton eines Thomas Mann über die Sittengeschichte der DDR: Verwirrnis (Suhrkamp, € 22,-).

2. Stephan Thome verbindet langen epischen Atem mit intimen Kenntnissen der chinesischen Kultur in Gott der Barbaren (Suhrkamp, € 25,70).

3. Der dritte und letzte Teil von Virginie Despentes' Odyssee durch die französische Seelenlandschaft ist nicht ganz so bestechend wie die Vorgänger. Auf die Jahresliste gehört er alle Mal: Das Leben des Vernon Subutex (KiWi, € 22,70).

4. Ein Roman über alles? Ja! Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen (Suhrkamp, € 49,40, das gigantische Romanprojekt des jungen österreichischen Autors Philipp Weiss.

5. Das Leben, Erinnerungsblitze, der Kampf um das Schöne und eine glasklare Prosa, die ihresgleichen sucht. Florjan Lipus' Seelenruhig (Jung & Jung, € 18,-).

SACHBUCH

1. Shoshana Zuboff, emeritierte Harvard-Professorin und markante Stimme in der Internetdebatte, analysiert in ihrer wuchtigen Abhandlung Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus (Campus, € 30,80), was mit unseren Internetdaten passiert.

2. Nina Verheyen erzählt die Geschichte des modernen Leistungsgedankens als Sprachspiel nach: Die Erfindung der Leistung (Hanser Berlin, € 23,-).

3. Dietmar Dath weiß auf hundert Reclam-Seiten mehr Treffliches über Marx zu berichten als andere in ganzen Bibliotheken: Karl Marx. 100 Seiten, € 10,-.

4. Terry Eagleton macht Schluss mit der Anmaßung, dass man über den Geist nur metaphysisch nachdenken könne: Materialismus (Promedia, € 17,-).

5. Chantal Mouffe, die streitbare Belgierin, will das Recht auf das Unbehagen demokratisieren: Für einen linken Populismus (Suhrkamp, € 14,40).

AUSSTELLUNG

1. Photo Politics Austria Zur furiosen fotografischen Zeitreise geriet dieses pointierte, launige Schlaglichterwerfen auf die 100-jährige Republikseele im Mumok. Noch bis 3. 2.

2. The Shape of Time Die Epochengrenzen sprengenden Tête-à-Têtes von Werken Alter Meister und Künstler*innen der Moderne und Gegenwart brachte im KHM Neues in Vertrautes.

3. Mika Rottenberg Schrill und beinhart kritisiert die New Yorker Video- und Installationskünstlerin im Kunsthaus Bregenz Arbeits- und Lebensbedingungen im globalen Zeitalter.

4. Man Ray Der Schau im Kunstforum Wien gelang es, Rays unbändige Neugier und Faszination für Licht und Schatten zu vermitteln. Prägnant.

5. Bruno Gironcoli Die Mumok-Retro führte das Bühnenhafte im Werk vor – und das Transformieren von Volumen in Flächen und wieder zurück.

KLASSIK

1. Salome Der Höhepunkt der Salzburger Festspiele als Gipfel der Saison: Salome in der Regie von Romeo Castellucci und mit Asmik Grigorian.

2. Die Weiden Oper von Johannes-Maria Staud an der Staatsoper überzeugte nur halb. Dennoch eine wichtige Bloßstellung des Populismus.

3. Stadt ohne Juden Zum traurig-visionären Film Die Stadt ohne Juden (1924) schieb Olga Neuwirth für Wien Modern eine sublim zeitkritische Musik.

4. Fin de partie Es galt lange, auf die Uraufführung der Beckett-Oper Fin de partie von György Kurtág zu warten. Statt in Salzburg zeigte man das anspruchsvolle Werk des ungarischen Klassikers der Avantgarde an der Mailänder Scala, wo der ehemalige Chef der Salzburger Festspiele, Alexander Pereira, das Sagen hat.

5. Martial Solal Ein Klassiker – allerdings des Jazz – adelte den 25. Geburtstag des Wiener Klubs Porgy & Bess. Der französische Meistpianist Martial Solal zeigte sich als so findiger wie witziger Virtuose der Improvisation. Charming, wie er manch alten Hadern belebte.

TIEFPUNKT

1. Causa Erl Der Fall um den nach Vorwürfen sexueller Belästigung zurückgetretenen Maestro Gustav Kuhn verstörte.

2. Andreas Gabalier, der mit Liedzeilen wie "Nix is mehr Daham als ein Schnitzel aus der Pfann / In einem christlichen Land hängt ein Kreuz an der Wand / Vaterunser beten, Holzscheitelknien" auch heuer wieder verbal und musikalisch irritierte.

3. Drohgebärden der Politik gegen Kultureinrichtungen. Die FPÖ wollte den Nestroy-Spielen Schwechat und dem Grazer Forum Stadtpark wegen kritischer Äußerungen zur Partei Subventionsgelder streichen. Hallo?

4. Bundesmusseen-Card Das jüngst präsentierte Modell ist ein touristenaffiner Stempelpass zum Einmaleintritt. Eine kombinierte Jahreskarte wäre aber gefragt!

5. Theatervertrag Linz Rot gegen Schwarz, Stadt gegen Land – der Streit um Kultursubventionen in Linz war unrühmlich. (red, 31.12.2018)