Im Sommer 2017 sitzen wir, eine Handvoll Journalisten, im Gastgarten eines Wiener Cafés. Vor uns liegt es schwarz auf weiß auf dem Tisch: ein vierzig Seiten dickes "Konvolut", in dem schwere Vorwürfe gegen einzelne Mitarbeiter des Innenministeriums erhoben werden. Für uns stellt sich eine entscheidende Frage: Handelt es sich bei diesem Papier, über dessen Existenz bereits seit einigen Wochen Gerüchte in der Hauptstadt kursieren, um den wichtigsten österreichischen "Leak" seit Jahren – oder um einen "absoluten Blödsinn", wie ein Kollege nach einer ersten Durchsicht urteilt?

Für beides gibt es Argumente. Zum einen wird von dem anonymen Verfasser die innere Struktur des Verfassungsschutzes und des Innenministeriums in einer Detailtreue beschrieben, über die nur Insider verfügen können. Andererseits enthält die Niederschrift Vorwürfe, die einem Groschenroman entnommen scheinen: Anrüchiges wie Sexpartys mit hochrangigen Beamtinnen oder Sadomaso-Vorlieben wichtiger Verfassungsschützer findet sich genauso darin wie Bezichtigungen der Korruption oder Anschuldigungen wegen abgezweigter Lösegelder. Mir ist an diesem Nachmittag klar: Ignorieren kann man dieses Dossier nicht. Wir beginnen zu recherchieren.

Ermittlungen im Hintergrund

Nur wenige Wochen später ist der Wahlkampf zur Nationalratswahl in voller Stärke angelaufen. Die Schlagzeilen werden vom verunglückten SPÖ-Wahlkampf um den Berater Tal Silberstein und dessen gefälschte Facebook-Seite über Sebastian Kurz dominiert. Das "BVT-Konvolut" spricht öffentlich jedoch kein Politiker an – erstaunlich, denn theoretisch enthielte es viel Munition gegen die ÖVP. Hinter vorgehaltener Hand bestätigen hochrangige Politiker sehr wohl, das Dossier zu kennen. Dieses werde wahrscheinlich erst in den Koalitionsverhandlungen wichtig, heißt es.

Das BVT hat wohl schon ruhigere Jahre erlebt
Foto: APA/Hochmuth

Unsere Recherchen verlaufen schleppend. Insider sagen uns vertraulich, dass die Vorwürfe "schon stimmen können", rein gefühlsmäßig allerdings, und dass sie "solche Gerüchte", also etwa über sexuelle Übergriffe oder persönliche Vorteilsnahme von Beamten, auch schon gehört hätten. Andere Geschichten hingegen können klar widerlegt werden, beispielsweise ein angeblicher Fund von Nazi-Devotionalien bei einem ehemaligen Kabinettsmitarbeiter. Wie sich herausstellt, wurde ein Koffer mit verfänglichem Inhalt neben dem Grundstück des Beamten platziert, dieser dann bei der Polizei denunziert.

Zu unserer Überraschung bestätigt das Innenministerium dem STANDARD und dem Nachrichtenmagazin Profil im Herbst eine der wilderen Geschichten aus dem Konvolut: In der Österreichischen Staatsdruckerei wurden nordkoreanische Pässe produziert – drei Stück davon gingen über das BVT an südkoreanische Behörden. Für uns der Beleg dafür, dass der Verfassungsschutz aktiv mit Südkoreas Geheimdienst kooperiert, um Nordkorea über Österreich auszuspionieren. Die Passweitergabe sei ein ganz normaler Vorgang, wiegelt das Innenministerium ab. Trotzdem laufen zu diesem Zeitpunkt im Hintergrund bereits die Ermittlungen in dieser Sache an. Den handelnden Beamten wird vorgeworfen, Geschenke von Südkorea angenommen zu haben. Und auch der Rest des BVT-Dossiers wird von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft ab nun genauer unter die Lupe genommen.

Frühmorgendliche Razzia im BVT

Gegen Weihnachten 2017 scheint die Angelegenheit für uns vorerst erledigt zu sein. Recherchestränge verlaufen im Nichts, viele Anschuldigungen konnten widerlegt werden. Vielleicht, so denke ich, hatte der Kollege an jenem Sommertag recht: Das Dossier ist nicht mehr als ein Blödsinn.

Dazu ist nun Herbert Kickl (FPÖ) der neue Innenminister, die alte schwarze Garde im Innenministerium dürfte vor der Ablöse stehen. Nebenbei hält uns die Regierungsbildung in Atem, sie dominiert die innenpolitische Berichterstattung. Das BVT-Konvolut gerät in Vergessenheit.

Innenminister Kickl (links) und BVT-Direktor Gridling bei einer erinnerungswürdigen Pressekonferenz
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Bis an einem Wochenende Anfang März plötzlich erste Meldungen über eine großflächige Razzia im Verfassungsschutz nach außen dringen. "Hast du das gesehen? War dieser Einsatz wegen des Konvoluts?", schreibt mir ein Kollege entgeistert.

Die journalistische Aufarbeitung der Causa rollt neun Monate nach der ersten Durchsicht des BVT-Papiers plötzlich wieder an. Wir vermelden, dass BVT-Chef Peter Gridling "auf Urlaub" ist. Wenig später erfahren wir, dass Gridling, Leiter der obersten Staatsschutzbehörde und bislang unbescholtener Spitzenbeamter, als Beschuldigter gilt. Ihm wird vorgeworfen, Warnungen über illegale Datenspeicherungen im BVT ignoriert zu haben. Auch gegen drei weitere hochrangige Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (darunter ein Abteilungsleiter sowie ein ehemaliger Vizedirektor) wird ermittelt.

Als wäre dies nicht irritierend genug, ist im Hintergrund eine zusätzliche Kakofonie zu hören: Die Razzia soll von Polizisten der Einheit gegen Straßenkriminalität durchgeführt worden sein, deren Chef ein FPÖ-Gemeinderat ist. Das ist ungewöhnlich. Normalerweise werden derartige Razzien von anderen Polizeieinheiten wie etwa der Wega durchgeführt. Dazu wurde der Einsatz im Amt, so die Vorwürfe, unter schwerer Bewaffnung und unangemessen brutal durchgeführt. Besonders lange sollen sich die Polizisten zudem im Büro der Extremismusreferatsleiterin aufgehalten haben, obwohl diese nur als Zeugin angeführt ist. Erste Verschwörungstheorien werden laut, nicht alle Gerüchte erweisen sich später als wahr – so verfügten die Polizisten über ihre normale Ausrüstung, nicht über "schwere Bewaffnung" und Sturmhauben. Für uns Journalisten ist es zu diesem Zeitpunkt schwierig, Gerüchte von Fakten zu trennen.

Auch die Oppositionsparteien hatten genug zu tun. Von links: Peter Pilz (Jetzt), Stefanie Krisper (Neos), Jan Krainer (SPÖ)
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Nach wenigen Tagen steht fest, dass das Büro der Extremismusreferatsleiterin tatsächlich umfassend durchsucht wurde. Zahlreiche Dokumente wurden sichergestellt, darunter auch Akten über Neonazis, die mit den Ermittlungen gegen BVT-Beamte rein gar nichts zu tun haben. Ein derartiger Vorgang wäre unter jedem Minister ein Skandal. Dass erstmals ein blauer Spitzenpolitiker in der Herrengasse sitzt, verschärft die Lage jedoch zusätzlich. Es kommt zu eilig einberufenen Pressekonferenzen und ersten Rufen nach einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der den ungewöhnlichen Vorgang ein für alle Mal klären soll.

Ein Neonazi als Security im BVT-Ausschuss

Ein halbes Jahr später ist es tatsächlich so weit. Wir betreten erstmals die Hofburg, um einer medienöffentlichen Befragung im U-Ausschuss beizuwohnen. Das Interesse ist enorm, nicht nur bei den Medienvertretern: Die BVT-Berichte auf derStandard.at erzielen online regelmäßig Rekordzahlen. Sitzplätze sind im Verhandlungssaal schwer zu ergattern. Wir hoffen auf rasche Erkenntnisse und nehmen uns vor, künftig früher zu kommen, damit wir noch einen Stuhl bekommen. Kollegin Maria Sterkl, die für den STANDARD live tickert, muss etwa mit dem Boden vorliebnehmen, sobald der Raum, in dem der Ausschuss tagt, für geheime Besprechungen geschlossen wird.

Der U-Ausschuss nimmt im September seine Arbeit öffentlich auf. Er wird eigene Skandale produzieren
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In der Zwischenzeit wird aufgedeckt, dass Innenminister Kickl die Wiederbestellung von BVT-Chef Gridling verzögert hat, bezeichnen Gerichte die Hausdurchsuchungen in den meisten Fällen als "überschießend", steht fest, dass die Suspendierung Gridlings zu Unrecht stattfand. Und es zeichnet sich ab, dass weiterer, nicht zu unterschätzender Schaden angerichtet wurde: Internationale Geheimdienste erklären etwa gegenüber der Washington Post, dass sie dem BVT nun nicht mehr vollends vertrauen.

Ein paar Ausschusstage später ist nur noch der harte Kern an Journalisten übrig geblieben, das Interesse lässt merkbar nach. Dafür ist die Büffet-Verantwortliche in der Hofburg mittlerweile etwas freundlicher zu den Journalisten. Außenstehende, die nicht zu den Medienvertretern zu zählen sind, werden von den hartnäckigen Ausschussbeobachtern schnell erkannt. Etwa eine Mitarbeiterin des Innenministeriums, die sich absurderweise im Medienraum aufhält. Journalisten aller Medien beschweren sich gemeinsam, dass dadurch vertrauliche Gespräche mitgehört werden könnten.

Staatsanwältin Ursula Schmudermayer muss dreimal vor dem U-Ausschuss aussagen
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Mich verwirrt noch mehr: Seit dem Prozessauftakt verfolgt mich das Gefühl, einen der Security-Mitarbeiter zu erkennen. Zunächst gelingt es mir aber nicht, ihn konkret einzuordnen. Erst Mitte November wird mir bewusst, warum mir sein Gesicht so bekannt vorkommt: Ich habe ihn auf Fotos von einem Neonazi-Treffen in Sachsen gesehen. Er entpuppt sich als Vertrauter des mehrfach verurteilten Neonazis Gottfried Küssel. Ein Rechtsextremer versieht also Dienst im U-Ausschuss, wo er Zeugenaussagen von Verfassungsschützern mithören kann. Ein neuer Pegelausschlag in der von Skandalen geprägten Causa. Es folgen parlamentarische Sondersitzungen und eine Reform des Sicherheitskonzepts.

Ein Ausschuss zwischen Agenten-Thriller und Kabarett

Inhaltlich bietet der U-Ausschuss ein Bild, das zwischen einem Agententhriller von John le Carré und dem einfältigen Schwank einer Volksbühne wechselt. Humoristisches Highlight ist die Aussage einer Belastungszeugin gegen BVT-Beamte, die ihren Kollegen Mobbing vorwarf – und dies vor allem mit der Radio-Niederösterreich-Beschallung begründete, der sie sich im Amt permanent ausgesetzt sah. Ernster zu nehmen sind Aussagen, die sowohl das Innen- als auch das Justizministerium sowie Staatsanwaltschaft und BVT alles andere als kompetent aussehen lassen. Allein mit den Widersprüchen einzelner Zeugenaussagen könnte man Ordner füllen. Gut steigt in dieser Affäre am Ende niemand aus.

Meine Bilanz nach anderthalb Jahren

Ende 2018 haben wir uns schon fast anderthalb Jahre mit der Causa beschäftigt. Wir wissen zwar viel mehr als zuvor, wirklich klüger sind wir aber nicht geworden. Persönliche Intrigen und schlichte Inkompetenz lassen sich nach wie vor nur kaum von raffinierten Verschwörungen trennen. Selbst wenn man sich allein an die Fakten hält, bleibt vieles offen.

Was wir wissen:

· Die Staatsanwaltschaft wirft BVT-Beamten vor, Daten des Wiener Anwalts Gabriel Lansky unrechtmäßig gespeichert zu haben. Nicht klar ist nach wie vor, um welche Daten es sich handelt – es kursieren mehrere USB-Sticks. Auch zum Gerichtsentscheid gibt es widersprüchliche Interpretationen: Dürfen die gesicherten Daten nur "nicht verwendet" oder müssen sie gelöscht werden? Die Ermittlungen gegen BVT-Chef Gridling und einen anderen Beschuldigten hierzu wurden eingestellt. Geprüft wird aktuell, ob Beamte Geschenke aus Südkorea angenommen haben.

· Im Frühjahr 2018 gab es eine Hausdurchsuchung im BVT. Die Staatsanwaltschaft begründet die Aktion mit Zeitdruck, der aufgrund der Möglichkeit von "Fernlöschungen" bestand. Dies wieder bezeichneten IT-Techniker des BVT vor dem U-Ausschuss als "Schwachsinn".

· Bei der Razzia standen Polizisten einer FPÖ-nahen Einheit stundenlang im Büro der Extremismusreferatsleiterin, um ausgedruckte Papiere durchzublättern, obwohl diese nur Zeugin war.

· Von zig mitgenommenen Zetteln aus deren Büro entpuppte sich nur einer als fallrelevant, weil er mit illegaler Datenspeicherung zu tun hatte – eine E-Mail, in der stand, dass Daten fristgerecht gelöscht werden müssen.

Einen großen Durchbruch erwarte ich mir in den nächsten Monaten nicht mehr. Die Causa wird undurchsichtig bleiben.

Für mich, der erstmals so lange an einem derart brisanten Fall recherchiert hat, ist das eine wichtige Lektion. Auch viel Geduld und journalistische Akribie reichen nicht immer, um einen Sachverhalt endgültig zu klären. Es bleibt nur, die Leserinnen und Leser so gut wie möglich zu informieren – und auch klarzumachen, dass man manches eben bis zuletzt nicht belegen kann. Trotzdem bin ich froh, dass wir den vermeintlichen "Blödsinn" nicht ignoriert haben. (Fabian Schmid, 30.12.2018)