Strandurlaub einer Vorzeigefamilie? Von wegen, in "Shoplifters" ist kein Familienmitglied mit dem anderen verwandt.

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Der japanische Regisseur Hirokazu Kore-eda.

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In der Halbtotalen wirken die Wohnräume der Familie Shibata wie ein Wimmelbild. Zahlreiche Gegenstände, wahllos im Zimmer verteilt, vieles davon Diebesgut, wie man annehmen muss, behindern die Übersicht. Die Shibatas sind keine gewöhnliche Familie, wenn man darunter eine biologisch definierte versteht. Oma, Vater, Mutter, Tochter und Sohn gibt es dennoch, aber niemand ist mit dem anderen verwandt. Das Miteinander imitiert eine Ordnung, die es für diese aus dem sozialen Raster Gefallenen nicht gibt. "Eine Quasifamilie", nennt sie Hirokazu Kore-eda im STANDARD-Interview.

Shoplifters, für den der 56-jährige Regisseur aus Japan in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, dringt einfühlsam ins Innere dieses privaten Kosmos vor, dessen heitere Geborgenheit es dem gängigen Verständnis nach gar nicht geben dürfte. Denn die Shibatas entsprechen nicht der Definition von Familie als kleinster Einheit der Gesellschaft, weil sie genau genommen außerhalb dieser stehen.

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Objektiv betrachtet handelt es sich bei dieser Sippe um Kriminelle. Die Großmutter (Kirin Kiki) bezieht weiterhin die Pension ihres verstorbenen Mannes (ein vergleichbarer Fall lieferte die Inspiration für den Film). Wie der Vater Osamu (Lily Franky) sein Einkommen bestreitet, sieht man zu Beginn: Da lässt er mit dem jungen Shota (Kairi Jyo) bei einem wie geschmiert laufenden Ladendiebstahl, inklusive Handzeichensignalen wie in Der Clou, Nahrungsmittel mitgehen. Mutter Nobuyo, verkörpert von der wilden Sakuro Ando, erinnert hingegen an eine Ganovin, die, warum auch immer, sesshaft wurde.

Jede Figur hat ein Geheimnis. Das jüngste Mitglied, die fünfjährige Yuri, wird frierend auf der Straße aufgegabelt und verpflegt. Weil man an ihr Spuren von Gewalt entdeckt, darf sie bleiben. Aus dem Provisorium wird schnell ein Dauerzustand. So führt Kore-eda vor, wie leicht man zu dieser Patchworkfamilie dazustoßen kann. Trotz aller Auffälligkeit beweist sie durch ihre Fähigkeit zu helfen auch eine eigenwillige Form von Nächstenliebe. Oder ist es doch Entführung?

Das Innerste einer Familie

Es ist nicht das erste Mal, dass Hirokazu Kore-eda sich mit der Frage beschäftigt, was eine Familie im Innersten bestimmt. In Like Father, Like Son (2013) werden die Kinder zweier Paare bei der Geburt vertauscht. "Damals hat mich die Frage beschäftigt, ob die Blutsbande oder die Zeit, die man gemeinsam verbringt, prägender ist", sagt der Regisseur. Ein Kind zu haben, ist er überzeugt, mache einen noch nicht zu einem Elternteil. "Mit den seltsamen Verbindungen der Shibatas wollte ich mich dieser Krise noch einmal anders stellen. Wie kann diese Familie überhaupt funktionieren?"

Kore-edas Augenmerk für Nuancen bewahrt den Film vor einseitiger Parteinahme. Rührstück ist Shoplifters keines, der sozialromantischen Anmutung, in den Ausgeschlossenen die bessere Familie zu erkennen, arbeitet er entgegen. Es ist ironischerweise ihr verbrecherischer Alltag, der den Wahleltern mehr Zeit für die Kinder lässt.

Vor die Wahl gestellt, ob man für sich selber oder das Kind einstehen soll, stürzen auch sie in ein unauflösbares Dilemma. Entscheidend für den Film ist überdies, dass das Familienkonzept nicht erst am Ende auffliegt. Auf diese Weise werden die Verhältnisse nochmals durch einen anderen Blick geschärft.

Kein Kommentar zur Verwestlichung

Als Kommentar zur Verwestlichung Japans, in dem traditionelle Bande geschwächt sind, will Kore-eda Shoplifters jedoch nicht verstanden wissen. "Natürlich sind die Menschen stärker voneinander isoliert. Aber mir ging es mehr um den Blick auf dieses Miteinander, das moralisch nicht opportun erscheint." Die Verbrechen seien auch Teil der Gesellschaft – wir müssten dafür auch Verantwortung übernehmen.

Insgesamt wirkt Shoplifters wie eine Summierung der Themen anderer Filme Kore-edas. Viele davon durchleuchten die Nischen einer Gesellschaft, auf die sonst nur ein Schlaglicht fällt. Sie erzählen von den Übersehenen und Sich-selbst-Überlassenen. Wie Nobody Knows von 2003, in dem Geschwister ganz ohne Eltern auskommen müssen.

Es überrascht nicht, dass sich Kore-eda gern auf den Briten Ken Loach bezieht. Dessen Wut kontert er mit asiatischer Milde, ohne an Präzision einzubüßen. Mit der Palme in der Tasche weitet sich nun das Feld: Erstmals dreht er in Frankreich mit Juliette Binoche und Catherine Deneuve. Die beiden waren noch nie in einem Film gemeinsam zu sehen. (Dominik Kamalzadeh, 31.12.2018)