Am Ende des EU-Vorsitzes gute Freunde: Kommissionschef Jean-Claude Juncker lobte Kanzler Kurz als "umsichtig, zuhörend, einfühlsam".

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Man muss sich Nikolaus Marschik als einen der erschöpftesten Menschen in Brüssel vorstellen. Drei Tage vor Silvester, Freitagnachmittag, hetzt der 47-Jährige von einem Termin zum nächsten. Er lasse sich entschuldigen, habe "auch nur für ein paar Minuten" keine Zeit, lässt sein Sprecher ausrichten, aber gern am 31. Dezember.

So geht das seit 1. Juli. Während viele EU-Beamte die Stadt längst verlassen haben, um Weihnachten mit der Familie zu verbringen, muss Marschik erst noch den Jahresabschluss hinbekommen und Bilanz ziehen. Das ist für den "Ständigen Vertreter Österreichs bei der Europäischen Union", wie sein offizieller Titel lautet, heuer eine besondere Herausforderung. Sechs Monate lang hat die wegen der Beteiligung der FPÖ und ihrer Migrationspolitik bei einigen Partnern in Europa skeptisch beäugte Regierung in Wien den Vorsitz im Rat der EU geführt.

Das bedeutet, dass die Ministerien mit der gut geölten "Beamtenmaschine" auf Ratsebene in Brüssel bei der Aufbereitung der laufenden EU-Geschäfte voll involviert sind. Österreichs Botschaft mit Marschik an der Spitze diente dabei als Relais, von der Vorbereitung bis zur Umsetzung mit den EU-28. Ein Botschafter muss mit seinen Leuten vor Ort in unzähligen Sitzungen und Gesprächen vermitteln und ausbügeln. Das geht Tag und Nacht.

Sehr viele Beschlüsse

Aus technisch-diplomatischer Sicht fällt die Bilanz beeindruckend aus. Es fanden insgesamt 2722 Veranstaltungen und Sitzungen statt, 50 EU-Ministerräte, davon 14 informell in Österreich. Es gab vier EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs, einen in Salzburg. Es kam zu 75 Einigungen im Ministerrat, weiteren 53 politischen Einigungen in 161 sogenannten Trilogen zwischen Kommission, Rat und EU-Parlament.

Das sind zahlenmäßig ziemlich viele, vergleicht man es mit den vorangegangenen EU-Vorsitzen von Bulgarien, Estland oder Malta. Kein Wunder, wenn man sich auf Beamtenebene darüber freut, dass das in EU-Dingen einflussreiche Infoportal Politico in einem Resümee zur Arbeit der Österreicher zum Schluss kommt, "wahnsinnig viele Brocken" seien weggeschafft" worden. Aber worum ging es inhaltlich, warum waren es im Finale so viele? Das ist weniger auf Initiativen aus Wien zurückzuführen, sondern hat vor allem damit zu tun, dass im Mai 2019 EU-Wahlen stattfinden. Im "Kehraus" davor drängen EU-Abgeordnete wie Kommission und Regierungen darauf, dass seit Jahren laufende Projekte zum Ende kommen. Man will dem Wähler im Wahlkampf etwas bieten.

Digitalsteuer gescheitert

Beispiele: Ein Plastikverbot für Einweggeschirr oder Strohhalme wurde ebenso verabschiedet wie ein "Verkehrspaket", das Rechte von Fernfahrern harmonisiert. Es gab Einigungen über Limits für CO2-Emissionen bei Neu-Pkws ebenso wie bei Lkws, die im nächsten Jahrzehnt in Kraft treten. Und ein Paket für saubere Energie.

Wenig erfolgreich war man bei dem Bemühen, gegen Steuerungerechtigkeiten und Steuervermeidung auf EU-Ebene vorzugehen: Eine groß angekündigte Einführung einer Digitalsteuer scheiterte ebenso wie die seit 2011 verhandelte EU-Steuer auf Finanztransaktionen. Es ließen sich diesbezüglich noch viele Projekte anführen. 90 Prozent der Arbeit des EU-Vorsitzes seien "Pflichtprogramm", sagt Stefan Lehne, Experte beim Thinktank Carnegie. Das habe Wien gut abgearbeitet.

Aber wie im Eiskunstlauf ist es das "Kürprogramm", das über das Bild in der Öffentlichkeit entscheidet. Diesbezüglich musste sich die Regierung scharfe Kritik anhören. Man wolle "ein Europa, das schützt", umsetzen, hatte Kanzler Sebastian Kurz im Juli programmatisch vorgegeben, vor allem die EU-Außengrenzen besser schützen, irreguläre Migration weiter zurückdrängen. Österreich wolle "Brückenbauer" für die EU-Partner sein, hatten er, seine Außenministerin Karin Kneissl und Vizekanzler Heinz-Christian Strache wie ein Mantra vorgesagt.

Brückenbauer ohne Brücken

Das sei ziemlich misslungen, befand der Tagesanzeiger: Wien habe sich "als Spalter" betätigt, nicht als Brückenbauer. Tatsächlich war es das Migrationsthema, das ein negatives Bild der türkis-blauen Regierung bei vielen EU-Partnern verfestigte: weil Wien dabei selbst so stark Position für eine restriktive Politik bezog, statt als Makler zu dienen. Und vor allem weil der UN-Migrationspakt sehr früh abgelehnt wurde, im Zuge einer Kampagne extrem Rechter auf Social Media. Beim EU-Gipfel scheiterte das Maßnahmenpaket zu Asyl und Migration erneut fast gänzlich. Auch das im Juni vereinbarte Vorziehen des Ausbaus der EU-Grenzschutzagentur auf 10.000 Beamte wurde wieder gekippt. Staaten wie Italien oder Griechenland hatten Einwände gegen EU-Eingriffe in nationale Souveränität, was Kommissionschef Jean-Claude Juncker als "himmelschreiende Heuchelei" verurteilte.

Aber Migration blieb nicht das einzige "große" Problem, dessen Lösung man sich vorgenommen hatte. So wie auch der Brexit trotz einer Einigung der EU-27 mit der britischen Premierministerin Theresa May noch nicht in trockene Tücher gebracht werden konnte, gab es bei der EU-Erweiterung auf dem Westbalkan nicht die erhofften Fortschritte. All das "erbt" nun die rumänische Regierung in einem noch schwierigeren Umfeld. Im Mai gibt es Europawahlen – keine gute Zeit für Kompromisse. (Thomas Mayer aus Brüssel, 1.1.2019)