Hätte Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder Michel Foucault vor den Pyramiden von Gizeh vom Smartphone wirklich keinen Gebrauch gemacht? Nichts fällt leichter, als sich über die Charaktermaske des Massentouristen zu erheben.

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John Ruskin fand 1849 einen schönen Vergleich. Die neumodische Eisenbahn würde, so der englische Kunstschriftsteller, "den Menschen aus einem Reisenden in ein lebendiges Paket" verwandeln. Einer seiner Zeitgenossen, ein Franzose, hämte schon damals – als die Eisenbahn schwindelerregende 30 km/h erreichte! -, der moderne Bahnreisende würde "die Namen der Städte, die er passiert hat", weder kennen noch sich merken, "und nur flüchtig erkennt er sie an den Türmen der berühmtesten Kathedrale, welche ihm wie die Bäume einer weit entfernten Chaussee erscheinen".

Nomadische Mobilität

Der Reisende war zum "Touristen" verkommen, Schandwort und Inbegriff von Ignoranz, hektischer Ortlosig- und noch gröberer Geschichtslosigkeit in Kombination mit nomadischer Mobilität. Seit 150 Jahren ist, von oben herab, die Rede von "Schädlingen" und "Herdenvieh-Reisenden". Der reisende Pöbel, das sind stets die anderen. Der englische Romancier Evelyn Waugh, auch in puncto Arroganz unerreicht, brachte die Selbstüberhebung 1930 fein auf den Punkt: "Im Ausland sieht sich jeder Brite bis zum Beweis des Gegenteils gern als Reisender, nicht als Tourist."

Nichts einfacher also als die Touristenschelte. Nicht so beim römischen Journalisten Marco d'Eramo, der fast vier Jahrzehnte für die linke Zeitung Il Manifesto schrieb und nun das touristische Zeitalter in Augenschein nimmt. Und es ist wahrlich ein Zeitalter! Der Weltorganisation für Tourismus (UNWTO) zufolge betrugen die Erträge aus dem internationalen Reisegeschäft im Jahr 2016 1,4 Billionen Dollar. Andere Zahlen sind noch krasser. Zum Beispiel für New York: pro Jahr 12,6 Millionen Touristen aus dem Ausland und 49,2 Millionen Gäste aus dem Inland. Schätzungen zufolge sind weltweit 292 Millionen Arbeitsplätze mit dem Tourismus verbunden, also rund zehn Prozent aller Jobs weltweit.

Wirtschaftsfaktor Tourismus

In vielen Ländern ist der Posten "Tourismus" ein wichtiger Teil des Bruttoinlandsprodukts. 2016 machte er in Frankreich 8,9 Prozent aus, in Italien 11,1 Prozent, in Spanien 14,5 Prozent. Eine ganze Galaxie hängt daran, von Handwerkern bis zum Flugzeug- und Schifffahrtsbau, Schneekanonenfabrikanten, Werbeagenturen, Kreditabteilungen von Banken, Verkehrsplaner und Produzenten von Sonnenschutzcreme – 2017 allein in Deutschland 19.290 Tonnen! -, kurz: ein gigantisches "tourism production system" (Stephen Britton). Dessen Kehrseite, Zersiedelung, Umweltverschmutzung, Emissionen von Autos, Bussen, Flugzeugen, wiederum einen Jobkreislauf auslöst.

Widerstand mehrt sich. Zusehends häufen sich Berichte von Aktivitäten, den Tourismus zurückzudrängen und auszudünnen. Im August 2017 kaperten in Barcelona vier Maskierte einen Touristenbus und sprayten in Großbuchstaben auf die Frontscheibe: "El Turisme Mata Els Barris", der Tourismus tötet unsere Grätzel.

"Der Tourismus ist die Industrie, deren Produktion mit ihrer Reklame identisch ist." Meinte Hans Magnus Enzensberger, unter dessen Beiziehung D'Eramo den Komplex "Tourismus" analysiert, andere sind Mark Twain, Michel Foucault, Hegel und Marx. Es geht um Städtemord, Nostalgie und Pseudoauthentizität, um Resorts, gelenkte Vergnügen und die Fabrikation schaler Träume. Klug, anregend, eloquent und selbst im Strandbad (getestet) gut lesbar ist das.

Narkotisiertes Opfer

Denn verstockt kulturpessimistisch ist der 73-jährige Römer, Sohn Luce d'Eramos, die mit Der Umweg, gerade auch auf Deutsch erschienen, über ihre Zeit als Fremdarbeiterin, Widerständlerin und KZ-Gefangene einen modernen italienischen Klassiker schrieb, der promovierte Physiker und einstige Soziologiestudent bei Pierre Bourdieu in Paris nicht. Jedenfalls nicht so wie andere Kapitalismuskritiker, für die die durch ein menschenleeres Rom zu Ferragosto oder durch Venedig trottenden Massen bewusstseinsnarkotisierte Konsumopfer sind. D'Eramo fordert in Sachen Tourismus Regulierung und Maßnahmen der Politik. Für ihn, der mitten in Rom in einer Wohnung lebt – von seinem Balkon hat er Blick aufs Kolosseum -, wird sich das T-Problem ohnehin bald auflösen. Durch eine umfassende Digitalisierung. Dann reicht ein Click, um überall zu sein.

Und so antwortete er jüngst auf die Frage, welches Buch, welche Platte, welchen Film er auf die einsame Insel mitnehmen würde, entrüstet: ein Tablet natürlich! (Alexander Kluy, 2.1.2019)