Bei seiner letzten "Rede zur Lage der Europäischen Union" im September hatte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker versucht, den 507 Millionen EU-Bürgern, den Abgeordneten in Straßburg und vor allem den Regierungschefs ins Gewissen zu reden, ihnen die globale Bedeutung der EU vor Augen zu führen.

In der modernen Welt, die sich durch die Digitalisierung rasant verändert, müsse Europa als Ganzes viel stärker und handlungsfähiger werden. Die EU mit ihren (derzeit noch) 28 Mitgliedsländern müsse "Weltpolitikfähigkeit" entwickeln, sagte Juncker und meinte: Macht haben. Gelingt das nicht, wird Europa das Wohlstandsmodell der ökosozialen Marktwirtschaft auf lange Sicht nicht erhalten können.

Denn die USA haben sich unter Präsident Donald Trump für einen Egotrip entschieden, der die transatlantischen EU-Partner (auch in der Nato) alt aussehen lässt. China, Russland, Brasilien werden von Autokraten geführt. Sie nehmen auf die Europäer keine Rücksicht, im Gegenteil: Russlands Präsident Wladimir Putin tut viel, um Europa mithilfe seiner EU-skeptischen rechtspopulistischen Vasallen zu spalten. Extrem rechte Politiker wie Marine Le Pen oder Matteo Salvini spielen gerne mit, in Österreich die moskautreue FPÖ.

Nicht viel Spielraum

In einer solch kritischen weltpolitischen Lage können sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten nur selbst helfen. Aber wie? Juncker tritt bald ab. Nach den Europawahlen Ende Mai wird im Juli der neue Kommissionspräsident auf Vorschlag der EU-Regierungschefs im Plenum in Straßburg direkt gewählt (Favorit: der deutsche Christdemokrat Manfred Weber). Im November machen Juncker und sein Team dann der neuen "EU-Regierung" Platz. In diesem europäischen Wahljahr bliebe also bereits der Papierform nach nicht viel Spielraum für eine rasche Ertüchtigung der Gemeinschaft.

Davor liegt noch der größte "Brocken", der Brexit, auf dem Weg. In knapp hundert Tagen sollte Großbritannien plangemäß aus der Union austreten, die zweitgrößte Volkswirtschaft und stärkste Militärmacht. Derzeit weiß niemand, ob dieser Schritt einigermaßen vernünftig nach dem von Premierministerin Theresa May ausgehandelten Brexit-Deal ablaufen wird oder chaotisch ohne klare Regelungen – mit einem maximalen Schaden für beide Seiten. Die verbleibende EU der 27 wird danach jedenfalls kleiner und politisch schwächer sein.

Tiefe Krise in Frankreich und Deutschland

Die beiden anderen großen EU-Staaten, von denen bisher oft Reformanstöße ausgegangen waren, stecken zudem tief in der Krise. In Frankreich muss Emmanuel Macron, der proeuropäischste Staatspräsident seit zwanzig Jahren, nach den Gelbwestenprotesten um seine Regierung bangen. Dass Deutschland unter Kanzlerin Angela Merkel plötzlich den Europaturbo einschalten könnte, ist unwahrscheinlich. Vielmehr droht der CDU/CSU-SPD-Koalition das, was sich auf nationaler Ebene in Italien manifestiert hat: ein weiterer Aufschwung von Rechtspopulisten, der AfD. Stürzt die SPD bei EU-Wahlen ab, käme der nächste Lähmungsanfall aus Berlin in die EU.

Unverblümelt machen die EU-Skeptiker, die Nationalisten mit Salvini, Le Pen und Heinz-Christian Strache an der Spitze, bereits mobil. Haben sie Erfolg, könnte das gemeinsame Europa 2019 noch weiter zerbröckeln. Es sei denn, die Wähler geben plötzlich wieder eine andere Richtung vor, indem sie die gemäßigten Parteien stärken. Dafür spricht derzeit nicht viel. (Thomas Mayer, 1.1.2019)