Bundeskanzler Sebastian Kurz und Michael Landau, Präsident von Caritas Österreich, am 3.1.2018 in Wien.

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Sebastian Kurz möchte gern diskutieren. Am liebsten mit Michael Landau über die Frage, was christlich-sozial ist. Kurz hat da nämlich seine ganz eigene Meinung, die er keineswegs für weniger maßgeblich hält als die eines aktiven Priesters und promovierten Theologen. Man könnte über diese Anmaßung lachen, wenn sie nicht Methode hätte: Christlich und sozial ist die ÖVP nicht etwa deshalb, weil sie die Befriedigung der Bedürfnisse der Schwachen, der Armen und der Verfolgten in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt. Christlich und sozial wird die ÖVP-Politik einfach dadurch, dass der Parteiobmann behauptet, dass sie es sei. Ob diese Behauptung den Tatsachen entspricht, ist eine parteiinterne Angelegenheit. "Der Michael Landau" hat dabei nichts mitzureden. Weil er nämlich – wie Kurz im ORF-Fernsehen anmerkt – kein ÖVP-Mitglied und wohl auch kein ÖVP-Wähler ist.

Wer Haltung und Praxis der ÖVP an den allen christlichen Konfessionen heiligen Schriften misst, wird so gut wie nichts finden, was es dieser Partei erlauben könnte, sich redlicherweise als eine christliche zu bezeichnen. Minister Gernot Blümel ist ein enragierter Kämpfer gegen die Sonntagsruhe, eines der wichtigsten Gebote der jüdisch-christlichen Glaubenstradition überhaupt. Er stößt mit dieser Haltung in seiner Partei auf keinerlei Widerspruch. Andreas Khol, der Vorzeigekatholik der ÖVP, verhöhnt offen das Jesus-Wort zur Nächstenliebe (Lk 10, 25-37), um im FPÖ-Lager Stimmen wildern zu können. Niemand in seiner Partei hat dagegen etwas einzuwenden. Von Parteiobmann Kurz werden mutige Frauen und Männer, die ihre Leben aufs Spiel setzen, um Menschen aus Seenot zu retten, als Schlepper angepöbelt, weil sie die libysche Küstenwache dabei stören, wenn sie eben diese Menschen in aller Ruhe ertrinken lässt. In der ÖVP findet das niemand empörend. In der Frage des Umgangs mit Flüchtlingen passen zwischen die Weisungen der Schrift und die ÖVP Welten, zwischen Kurz, Kickl, Strache und Gudenus aber kein Blatt Papier. Die Liste lässt sich endlos fortsetzen.

Der Befund ist leider nicht schwierig: Die ÖVP ist, wohlwollend gesprochen, eine Unternehmer- und Industriellenpartei, die die Interessen der eingesessenen Bessergestellten gegen alle Schlechtergestellten wahrnimmt und die ungehemmten Freiheitsrechte der Zahlungskräftigen gegen alle Wünsche nach sozialer Einhegung verteidigt. Weniger wohlwollend, aber wahrscheinlich treffender wird man sie als ordinäre Rechtspartei mit einer weit zurückliegenden christlich-sozialen Vergangenheit bezeichnen müssen. In einem laizistisch definierten, demokratischen Rechtsstaat mag das nicht jedem sympathisch sein, eine Schande ist es – soweit allgemein anerkannte Grenzen des menschlichen Anstands nicht verletzt werden – aber auch nicht.

Was eine Schande und ein widerwärtiges Ärgernis ist, ist das aufgeregte Herumgefuchtel einer solchen Partei mit dem Kruzifix. Wenn Kurz wünscht, als christlicher Politiker wahrgenommen zu werden, sollte er sich einfach für die Umsetzung der egalitär menschenfreundlichen Ideen des Jesus von Nazareth in Gesetzgebung und Gesellschaft einsetzen. Bestimmt keine leichte Aufgabe in der ÖVP 2019. Der Versuch, das Problem durch die Degradierung des Begriffs "christlich" zur inhaltsleeren Lautfolge zu lösen, deren jeweils opportune Bedeutung nach Belieben bestimmt werden könnte, ist ein erbärmlicher Taschenspielertrick, den man keinem ÖVP-Bezirksparteisekretär durchgehen lassen möchte. (Sven Hartberger, 2.1.2019)