Chinas Präsident Xi Jinping in Beijing, am 2.1.2019.

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Ganz unrichtig ist der Befund nicht, zu dem die unabhängigkeitsfreundliche Zeitung "Taiwan Sentinel" nach der "großen Rede" des chinesischen Präsidenten Xi Jinping kommt: "Extrem unoriginell" nennt sie die Ansprache und "geradezu phrasenhaft". Will heißen: Fast alles, was der chinesische Präsident am Mittwoch gesagt hat, hat man schon einmal gehört: die Drohung, Taiwan mit Militärgewalt wieder unter die Herrschaft Pekings zu stellen, das wenig glaubhafte Angebot, via "ein Staat, zwei Systeme" Freiheit zu gewähren, und das Dringen auf "Fortschritt in den Beziehungen über die Meeresstraße", die Taiwan vom Festland trennt.

Doch das ist nur die eine Seite. Denn auch wenn weder Inhalt noch Form bisher unbekannt sind: Die Vehemenz und Häufigkeit der Forderungen, die Chinas Führung plötzlich an den Tag legt, haben eine bisher ungekannte Dimension. Zudem hat sich der Kontext verändert, in dem Peking seine Drohkulisse gegen die "abtrünnige Provinz" aufbaut: Nach Jahren der Stabilität verliert Taiwan in der Welt an Verbündeten: Hatten vor fünf Jahren noch 22 Länder die Regierung auf der Insel als jene Chinas anerkannt, sind es nun nur noch 17. Allein drei haben im vergangenen Jahr ihre Allianz von Taipeh nach Peking verschoben. Fast nur noch karibische und pazifische Kleinstaaten sind es, die sich durch milde Gaben aus Taiwan zur Bündnistreue animiert fühlen.

Wirtschaft abhängig

Dazu kommt, dass sich auch auf der Insel die Umstände geändert haben. Ihr System hat sich zu einer vollen Demokratie entwickelt, in der echte Wahlen stattfinden und verschiedene Meinungen ebenso respektiert werden wie Menschenrechte. So positiv das ist: Es vergrößert den Systemunterschied zur autoritärer werdenden Volksrepublik und schafft dort neuen Druck zu handeln, bevor die Schere noch weiter aufgeht.

Die Taiwanerinnen und Taiwaner haben 2016 mit Tsai Ing-wen eine unabhängigkeitsfreundliche Präsidentin gewählt, die auch mit ihrer gesellschaftlichen Liberalität Hoffnungen geweckt hat. Erfüllen konnte sie sie bisher nicht. Tsai steht unter Druck ihrer Basis, nicht auch noch Peking gegenüber nachgiebig zu erscheinen.

Das Problem: Ihr Blatt ist schwach. Taiwans Wirtschaft ist von jener der Volksrepublik abhängig, der Handelskrieg Washingtons mit Peking verschlechtert die Situation weiter.

Und "USA" ist auch schon das nächste Stichwort: Selten zuvor konnte sich Taiwan so wenig auf den Beistand seiner Schutzmacht verlassen wie heute. Donald Trump blieb bisher sehr widersprüchlich: Noch nicht im Amt, zog er sich den Zorn Chinas zu, indem er mit Tsai telefonierte und so ein Tabu brach. Später gaben US-Vertreter dann zu verstehen, der Präsident sei womöglich bereit, Taiwan im Streit um den Handel, um Nordkorea oder um das Südchinesische Meer als Tauschobjekt einzusetzen. Ob man das glaubt oder nicht: Taipeh kann schwerlich darauf vertrauen, dass ein Präsident Trump amerikanische Leben und einen Krieg mit China riskieren würde, nur um die demokratische Regierung auf der Insel zu schützen.

Und auch Peking operiert in dieser Frage im Dunkeln. Entsteht dort aber der Eindruck, man könne mit dem Einsatz von Militärgewalt womöglich ungestraft davonkommen, wird die Situation gefährlich. Präsident Xi Jinping hat den Nationalismus stärker zum Pfeiler seiner Herrschaft gemacht als viele seiner Vorgänger. Nun spürt er selbstgemachten Handlungsdruck. (Manuel Escher, 2.1.2019)