Ein Wiener Vorstadtkind, das zum Weltbürger geworden ist: Zu seinem 90. Geburstag würdigt der Rabenhof Arik Brauer mit einer Zeitreise von den 1930er-Jahren in Ottakring bis heute.

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Er springt die Stufen hinab – und das mit 90 Jahren. Arik Brauer war schon immer eine Ausnahmeerscheinung. Ein "Wunderkind" hat man ihn in seiner Jugend geheißen, als einer der Wiener Vertreter des Phantastischen Realismus ging er in die Geschichte ein. In den 1970er-Jahren erreichte er mit seinen Dialektliedern eine große Zuhörerschaft. Am Freitag feiert der in Wien und Israel lebende Künstler mit einer von seiner Tochter Ruth ausgerichteten Revue seinen runden Geburtstag im Wiener Rabenhof.

STANDARD: Das Gedenkjahr 2018 wurde mit vielen Veranstaltungen begangen, Sie waren mehrfach dabei und haben gemeint, Sie würden regelrecht "verbraten". Von wem?

Brauer: Wenn jemand zu oft in der Öffentlichkeit ist, dann kommt der Punkt, an dem die Menschen denken: Ach, schon wieder der Brauer! Ich selbst gehe mir rasch auf die Nerven.

STANDARD: Sie sind Jude, aber nicht religiös, links, aber widersprechen oft dem linken Mainstream. Werden Sie eingeladen, weil Sie sich in keine Schublade pressen lassen oder deswegen?

Brauer: Ich habe im Laufe meines Lebens gelernt, dass man alles hinterfragen soll. Wenn alle in eine gewisse Richtung springen, werde ich skeptisch.

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STANDARD: Mit Ihrer Meinung, dass man sich als Jude heute weniger vor Rechten fürchten muss als vor arabischen Zuwanderern, haben Sie viel Aufsehen erregt.

Brauer: Meine Meinung ist kaum widerlegbar. Der Antijudaismus vieler Araber ist nicht mit dem europäischen Antisemitismus zu vergleichen, der von religiösen und rassischen Vorurteilen geprägt war.

STANDARD: Vorwerfen könnte man Ihnen, dass Sie sich von Rechten instrumentalisieren lassen …

Brauer: Weil da ein Jude kommt und sagt, es gibt keinen Antisemitismus? Darum geht es nicht. In Österreich gibt es gerade einmal einige Tausend Juden. Natürlich wissen wir, dass es einen Antisemitismus ohne Juden gibt. Das ist aber nun wirklich das Problem der Antisemiten, das ist pathologisch.

STANDARD: Beim Mauthausen-Gedenken haben Sie sich für eine FPÖ-Teilnahme ausgesprochen.

Brauer: Ich verstehe gar nicht, wie man dagegen sein kann. Für wen macht man diese Veranstaltungen? Für die Juden? Die wissen eh, was passiert ist. Man macht es, damit die Geschichte nicht in Vergessenheit gerät oder abgestritten und verharmlost wird. Und genau diejenigen, die das immer wieder betrieben, schließt man aus?

STANDARD: Viele jüdische Stimmen haben sich gegen die Teilnahme der FPÖ ausgesprochen.

Brauer: Jemandem, der Blut an den Händen hat, würde ich auch nicht die Hand geben. Aber hier haben wir es mit einer Generation zu tun, die die Geschichte vom Hörensagen kennt. Die größten Probleme mit der FPÖ habe ich beim Thema Europa. Man behauptet immer wieder, man sei für Europa, aber … Ich gehe davon aus, dass Europa nur längerfristig existieren kann, wenn es ein eigener Staat wird.

STANDARD: Das heißt, mit der Europapolitik der FPÖ haben Sie ein Problem, aber nicht mit ihren rechten "Ausrutschern"?

Brauer: Es gibt diese Partei, und sie hat einen Teil der Bevölkerung hinter sich. Sie abzulehnen und auf der Seite der Gerechten zu stehen ist wunderbar, führt aber leider zu nichts.

STANDARD: Sie haben vor allem linke Kreise mit Ihren Aussagen verstört. Wie viel Widerspruch haben Sie erfahren?

Brauer: Ich komme aus der Linken, war viele Jahre glühender Kommunist. Ich nähere mich nicht der FPÖ an, ich nähere die FPÖ uns an. Ich nehme das Risiko auf mich, Widerspruch zu provozieren, und sage das, was ich für richtig halte.

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STANDARD: Sie waren immer ein politischer Kopf. Wie wurden Sie politisiert?

Brauer: Durch die Zeitgeschichte. Ich kann mich an die Schießereien 1934 erinnern ...

STANDARD: ... da waren Sie erst fünf.

Brauer: Ich konnte nicht in den Kindergarten gehen. Wir sollten uns an dem Tage verkleiden, aber das wurde abgeblasen. Man hat Schüsse gehört, meine Mutter hat Matratzen zwischen die Doppelfenster geschoben. Niemand hat über etwas anderes geredet als über das Versagen der SPÖ.

STANDARD: Wann wurden Sie Kommunist?

Brauer: Ich war fünf Jahre in der Jugendbewegung aktiv, und das habe ich mir den Rest meines Lebens vorgeworfen. Erstmals habe ich während der Stalin’schen Schauprozesse geschwankt. Als die Russen in Budapest einmarschierten, bin ich nach Israel gefahren. Damit war die Sache für mich erledigt. Bis heute verachte ich Stalin viel mehr als Hitler.

STANDARD: Warum?

Brauer: Hitler ist mit einer Theorie angetreten, die amoralisch war: Wir sind die Besten und haben das Recht, andere zu unterjochen. Stalin ist angetreten mit dem Ideal einer klassenlosen, gerechten Gesellschaft. Und damit haben sie mich erwischt. Die Enttäuschung und den Verrat all dessen, was man von Marx bis Otto Bauer beabsichtigte, habe ich persönlich genommen. Ich bin auch auf die Lagerfeuer, die Lieder und die feschen Madeln hineingefallen.

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STANDARD: Sie haben gesagt, dass Sie sicher ein Nazi geworden wären, wenn Sie kein Jude wären.

Brauer: Wenn ein junger Mensch nicht vom Elternhaus politisch erzogen wurde, hatte er null Chancen, kein Nazibub zu werden. Es gab keine Arbeit, es gab Massenelend, Fetzen auf dem Leib, so haben die Kinder in Ottakring gelebt .

STANDARD: Sie haben die 1930er als Kind erlebt, erkennen Sie Parallelen zu heute?

Brauer: Das Böse im Menschen gab es damals und gibt es heute. Nur sind die Voraussetzungen heute ganz andere. Alles, was sich der Mensch an Materiellem wünscht, ist im Überfluss vorhanden. Ein Bettler ist heute viel besser angezogen als ein mittelmäßig verdienender Mensch in den 30er-Jahren. Und er wohnt auch besser.

STANDARD: Das ist das Materielle, was ist aber mit der Verrohung, die allseits beklagt wird?

Brauer: Ich kann mich an keine Gesellschaft erinnern, die weniger verroht war. Ich erinnere mich an den Kalten Krieg, das endlose Abschlachten in Jugoslawien. In den 1960er-, 1970er-Jahren gab es vielleicht ein allgemeines Durchatmen, aber ansonsten? 1968 war ich in Frankreich ja selbst dabei.

STANDARD: In Frankreich fingen Sie auch an, Ihre Protestsongs zu schreiben.

Brauer: Ja, ich habe meine Dialektsongs in Paris geschrieben, inspiriert von dem Bedürfnis, den in Österreich in keiner Weise aufgearbeiteten Nazi-Faschismus zu attackieren. Ich war mit H. C. Artmann befreundet, dessen Dialektgedichte ich studiert habe.

Die jüdische Volksmusiktradition Klezmer heißt wörtlich "Gefäß des Liedes": Arik Brauers Gemälde von 2003 scheint dies zu verbildlichen.
Foto: Arik Brauer

STANDARD: Das progressive Kunstverständnis ging damals wie heute in eine andere Richtung. Als Vertreter des Phantastischen Realismus wurden Sie ins reaktionäre Eck gestellt. Hat das geschmerzt?

Brauer: Was die Malerei betrifft, hat das mein ganzes Leben überschattet. Aber es war mir von Anfang an klar, dass ich außerhalb des Mainstreams mein Leben verbringen werde. Das habe ich nie bereut. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich in der Malerei ein Bremser bin, obwohl das so verstanden wurde. Was die Musik betrifft, war das durchaus etwas altes Neues, was ich gemacht habe.

STANDARD: Und da war die Akzeptanz größer?

Brauer: Ja, ich wollte politisch etwas ohne erhobenen Finger erzählen. Dazu eignet sich der Dialekt gut, er stellt eine Verfremdung da. Es ging mir damals ausschließlich um die Inhalte und nicht um die Musik. Die Französische Revolution begann mit Liedern, der russische Widerstand gegen das Sowjetregime begann mit Liedern. Der gesungene Witz, die gesungene Karikatur sind eine starke Waffe.

STANDARD: Hat die künstlerische Außenseiterposition dazu geführt, dass Sie politisch freier sprechen?

Brauer: Ich habe gelernt, dass jede Strömung nur eine Teilwahrheit in sich trägt. In meinem Weltbild ist das etwas ganz Grundlegendes. Man muss alles hinterfragen, vor allem die Mainstreams. (Stephan Hilpold, 3.1.2019)