Vom Gehirn durch die Hand in immer neuen Sprachwellen auf das Papier: ein Manuskriptblatt aus Gert Jonkes Textsammlung "Stoffgewitter".

Foto: ÖNB

Pünktlich zum heutigen zehnten Todestag Gert Jonkes darf man im Brustton der Überzeugung auf die brennende Aktualität des Klagenfurter Weltliteraten verweisen. Ein solcher mit den Zuständen, wie sie heute in Österreich anzutreffen sind, vortrefflich harmonierender Text heißt Großfischhändler am Donaukanal. Er findet sich in der Prosasammlung Himmelstraße – Erdbrustplatz oder Das System von Wien, 1999 verlegt bei Residenz.

In diesem Bravourstück der Stadterkundung gelangt Jonkes Ich-Erzähler an den Donaukanal. Genauer gesagt: Er trifft auf einen "Fischgroßhändler" als "Großfischhändler", der mit dem geseufzten Ausdruck der Erleichterung soeben den Rollbalken vor seiner Hütte herunterlässt. In einem sich zwanglos entspinnenden Gespräch enthüllt der Fischhändler seinem Zuhörer eine verblüffende Tatsache. Weil in Österreich die "eigentliche Politik von Leuten betrieben" werde, "die man nie der Politik zuzuordnen wagen wird", sei er, der Großfischhändler, das "Oberhaupt" des Landes.

Wie das zugehe? Der amtierende Kanzler sei nur die "Marionette" seines (jeweiligen) Parteiideologen. Dieser wiederum leite nur weiter, was ihm sein Sekretär ins Ohr flüstere. Am Ende der Befehlskette aber stehe niemand Geringerer als er, der Großfischhändler: "Also ich bin der eigentliche Kanzler, weil alles so durchgeführt wird und vor sich geht, wie ich es bestimme."

Modelle der Wirklichkeit

Jonkes furiose Darstellung eines typisch österreichischen Demokratiemodells enthält alle Kennzeichen scheinbarer Beweisführung. Sie enthüllt, dass man als Kanzler auf der sicheren Seite ist, wenn man als Schweigekanzler amtiert. Es ist im Zweifelsfall ohnehin nur ein Fischhändler aus der Leopoldstadt, der aus einem spricht. Die Erzählung ist ein Paradebeispiel für die heimische experimentelle Literatur.

Durch die planvolle Wucherung von Behauptungssätzen werden Muster und Modelle der Wirklichkeit als das enttarnt, was sie ihrer Natur nach sind: hypothetische Entwürfe. Diese prägen nach Maßgabe der Grammatik das Bild, das wir uns von der Wirklichkeit machen. Umgekehrt müssen wir bereit sein, die Vorstellungen, die wir uns von der "Welt" machen, zu revidieren.

Es war über mehrere Jahrzehnte die heimische "experimentelle" Literatur, die ihre Leser zur Akzeptanz einer solchen Vorläufigkeit erzogen hat. Mit Poeten wie Ernst Jandl und Hans Carl Artmann gelang es namhaften Vertretern der heimischen Moderne sogar, populär zu werden. Mit dem Monokel im Auge als grimmiger Aristokrat verkleidet (Artmann).

Schwindelerregende Sätze

Namhafte bundesdeutsche Verlagshäuser hofierten etwa ab Ende der 1960er-Jahre die spezifisch österreichische Tradition der (beredten) sich auf Ludwig Wittgenstein berufenden Sprachskepsis. Gert Jonkes (1946–2009) schwindelerregende Satzkonstruktionen gemahnen von Ferne an Thomas Bernhard. Der Autor gehörte bereits der zweiten, in Wahrheit sogar der dritten Generation experimenteller Dichterinnen in Österreich an.

Sein Werk wird bis heute vom Salzburger Verlagshaus Jung und Jung in wunderschönen Ausgaben vertrieben. Und doch gilt auch für Jonke posthum das ernüchternde Diktum: Man rühmt ihn, führt gelegentlich eines seiner die Wirklichkeit umstülpenden Theaterstücke auf. Sonst liest man ihn kaum. Man müsste Jonkes lange Satzgebilde wieder den Crowds der Generation Internet in den Magen stopfen. Unermüdlich, als Beweise für die Notwendigkeit notorischer Sprachlusterregung.

Aus den Regalen entfernt

Die gönnerhafte Ermunterung durch deutsche Zwischenhändler verebbte bereits in den 1990ern. Damals gingen Großverlage wie Rowohlt rigoros dazu über, Autoren wie das streitbare Prosagenie Werner Kofler vor die Tür zu setzen. Längst ersetzt die Romanlänge als Warenform die Lust am (unorthodoxen) Text. Erzählt wird sicherheitshalber, was man ohnehin schon weiß. Gar nicht heimlich still und leise verschwinden die Jandls, Jonkes und Artmanns aus den Regalen der Buchhandelsketten. Die Fischgroßhändler dieser Tage machen in Krimis. Die irritieren kein Weltbild, sondern huldigen der Mordlust vor schlampiger Heimatkulisse.

In einem Jonke-Roman wird hingegen nie klar, wer "es" getan hat. Die Sprache? Oder doch nur die Unbeholfenheit derer, die sie "literarisch" zu gebrauchen meinen? Der große Berliner Poesietheoretiker Sebastian Kiefer hat soeben ein Werk über die einflussreichen 44 gedichte des Avantgarde-Lyrikers Reinhard Priessnitz veröffentlicht. Es heißt Parodie und Totalität und enthält die klügsten Gedanken zum Erkenntnisstand heutiger Welterschließung vermittels einer Poesie, die sich als Mittel zur Erkenntnis versteht. Das Buch hat 1100 Seiten. (Ronald Pohl, 4.1.2019)