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Widerspruch aus den eigenen Reihen ist Putin nicht gewohnt: Nun hat Alexej Kudrin die Einschätzungen seines Chefs revidiert.

Foto: Reuters/Mikhail Klimentyev

Das Spiel mit den Ziffern beherrscht der Kremlchef virtuos. Seit Jahren verblüfft er politische Beobachter immer wieder mit seinem phänomenalen Zahlengedächtnis, wenn er bei Pressekonferenzen oder TV-Fragestunden scheinbar punktgenaue Prozent- oder Statistikangaben selbst zu wirtschaftlichen Randthemen aus dem Ärmel schüttelt. Zahlen bezeugen Kompetenz und Sicherheit.

Doch an den bei der Jahrespressekonferenz im Dezember verkündeten Zahlen gab es schnell Zweifel. Nun hat er sogar quasi von offizieller Seite Widerspruch geerntet: Der Chef des Rechnungshofs Alexej Kudrin hat zu Neujahr die Russen mit schlechten Zahlen erschreckt: "Der Rechnungshof hat seine vorläufige Einschätzung zum Jahresende gegeben: Die Inflation ist höher als prognostiziert, das BIP-Wachstum niedriger, wenn die Realeinkommen der Russen gewachsen sind, dann maximal um Zehntelprozente", schreibt Kudrin.

Realeinkommen sind nicht gewachsen

Demnach liegt das Wirtschaftswachstum nur bei 1,5 Prozent, während die offiziellen Prognosen von 2,1 Prozent im September 2017 beziehungsweise immerhin noch 1,8 Prozent im Oktober 2018 ausgegangen waren. Die Inflation hingegen übersteigt mit 4,2 Prozent den Zielkorridor von vier Prozent und mit brutaler Deutlichkeit die erst zwei Monate alte Vorhersage vom Oktober 2018 (2,7 Prozent). Dementsprechend sind auch die Realeinkommen der Russen nicht wirklich gewachsen. Hier lässt sich Kudrin zwar mit seiner Vorhersage von null bis 0,4 Prozent den größten Spielraum. Von den Regierungsprognosen im September 2017 (2,3 Prozent) oder gar Oktober 2018 (3,4 Prozent) ist dieser Wert jedoch meilenweit entfernt.

Weitaus brisanter jedoch ist, dass sich die Zahlen auch deutlich von jenen unterscheiden, die Putin Ende Dezember, also im Prinzip erst wenige Tage vor Kudrin, präsentierte. Der Kremlchef hatte dort gleich zu Beginn der Marathonveranstaltung das Wirtschaftswachstum mit 1,7 Prozent beziffert. Die Inflation sei zwar über den Zielkorridor hinausgeschossen, aber mit 4,1 Prozent nur unwesentlich, verkündete er zudem. Und nebenher sah der Präsident noch einen "positiven Trend" bei der Entwicklung der Realeinkommen. Diese seien zwar nicht viel, aber nach drei Jahren Verfall immerhin um 0,5 Prozent gewachsen, sagte Putin der russischen und internationalen Presse.

Einspruch vom Experten

Kudrin ist ein langjähriger Wegbegleiter Putins. Selbst als der ausgewiesene Finanzexperte wegen eines Streits mit dem damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew als Finanzminister und Vizepremier aus der Regierung schied und zeitweise sogar mit der Opposition anbandelte, behielt Kudrin die Wertschätzung Putins, der ihn im vergangenen Jahr dann als Rechnungshofchef wieder in verantwortliche Position brachte.

Ohne feste Grundlage würde Kudrin der Einschätzung seines Vorgesetzten nicht widersprechen. Die Divergenz spricht für zweierlei. Es ist wahrscheinlich, dass Putin, wenn keine falschen, so doch nicht die aktuellsten Schätzungen vorgestellt hat. Diese hätten das von Putin verbreitete Bild, die russische Führung habe die wirtschaftliche Lage im Griff, konterkariert. Das wollte der Kreml so kurz vor den Feiertagen wohl vermeiden. Zweitens geht der ökonomische Trend offenbar massiv nach unten.

Geschenke mit begrenztem Effekt

Am stärksten machte sich das bei den Realeinkommen bemerkbar: Vor den Präsidentenwahlen im März hatte der Kreml noch mehrere "Geschenke" an Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes verteilt. Diese Prämien hatten nur einen zeitlich begrenzten Effekt. Bereits im Sommer sanken die Einkommen auf Monatsbasis. Im November war dieser Effekt mit einem Minus von 2,9 Prozent gegenüber dem November 2017 schon drastisch zu spüren. Auch wenn für den Dezember noch keine offiziellen Zahlen vorliegen, deutet Kudrins Jahreseinschätzung auf einen weiteren Abfall hin.

Dass auch das BIP-Wachstum sich zuletzt deutlich eintrübte, lässt für 2019 nichts Gutes erwarten. Schon die Regierung selbst ist verhalten, die Stimmung im Land noch trüber: 57 Prozent wollen eine Rezession nicht ausschließen. Auch Experten warnen, dass Russland aufgrund versäumter Reformen in den nächsten Jahren nicht mit hohem Wachstum rechnen könne. Sozial wird die Anhebung von Mehrwertsteuer und Tarifen auf Einkommen und Stimmung schlagen. (André Ballin, 4.1.2019)