Dragqueens und lange Nächte: Die US-Fotografin Nan Goldin dokumentierte das Leben ihrer erweiterten Freundesclique in den 1980ern.

Foto: Nan Goldin

Rittlings saß Diane Arbus mit der Kamera auf ihr, ließ ein Stakkato an Fragen auf sie einprasseln. Eine "reine Gewaltanwendung", erinnert sich die US-Feministin Germaine Greer an ihre Porträtsession mit der auf ihr knienden Fotografin. Den Auslöser hätte Arbus immer nur dann getätigt, wenn ihr Gesicht Spannung, Sorge, Langeweile oder Verärgerung ausdrückte.

Diane Arbus zwang ihre Gegenüber regelrecht dazu, sich der Kamera zu stellen. Man könne nicht in die Haut eines anderen schlüpfen, sagte sie über ihre Suche nach dem authentischen Bild. Nan Goldins Art zu fotografieren ist von solcher Drastik weit entfernt. "Bilder zu machen schafft für mich keine Distanz. Es ist eine Art, jemanden zu berühren, eine Zärtlichkeit", sagte die Berufskollegin über das, was sie mit von ihr Fotografierten – Freunden – verband.

Diane Arbus: "Blaze Starr Backstage", Baltimore, Md. 1964
Foto: The Estate of Diane Arbus

Wahre Physiognomie

Lisette Model hingegen sprach nie mit den Leuten, die sie ablichtete, und riet das auch ihren Studenten. An der Oberfläche fände sich alles, war sie überzeugt. "Die Oberfläche ist das Innere." Allerdings muss man dieser Oberfläche sehr nahe kommen. Die meisten Menschen würden Hollywood imitieren, sagte sie einmal. Nur wenige besäßen eine wahre Physiognomie, eine, die Lebenserfahrungen und Gefühle widerspiegele. Für sie ein Zeichen der Stärke.

Jedes von Lisette Models Fotos zeigt die Liebe zu echten "Typen" und für die Schönheit gelebten Lebens: "Woman with Veil, San Francisco" 1949
Foto: © Estate of Lisette Model

Die Art, in Kontakt zu treten, könnte bei den dreien kaum unterschiedlicher sein. Und dennoch ist es die hergestellte Nähe, die diese amerikanischen Fotografinnen eint: Model, geboren 1901 in Wien, ihre prominenteste Schülerin Arbus, Jahrgang 1923 und Goldin, die obgleich erst 1953 geboren, von der 1938 nach New York emigrierten Model stark beeinflusst war.

Drogennächte

Das Wiener Westlicht zeigt diese drei Großen der Fotografie nun zusammen: Nicht im direkten Nebeneinander, obgleich das durchaus spannungsvolle Dialoge provozieren würde, sondern jede für sich. Es sind Bilder, die über ein halbes Jahrhundert hinweg entstanden sind: in den 1930ern und 1940ern, die Aufnahmen blinder Bettler auf den Pariser Boulevards und die wie Echsen in der Sonne Nizzas bratenden Oberschicht; zwanzig Jahre später die Fotografien freudloser Nudisten, exzentrischer Upper-Class-Damen, von Riesen, Kleinwüchsigen und anderen "Freak"-Show-Darstellern; in den Achtzigern schließlich die Bilder schillernder Dragqueens, melancholischer Homosexueller und scheinbar niemals endender Drogennächte.

Wenn auch von unterschiedlichen Motiven angetrieben, schonungslos direkt sind sie alle. Überdies eint sie der Blick auf die Ränder der Gesellschaft, auf exzentrische Außenseiter und sozial Ausgegrenzte. Sie blickten dorthin, wo andere wegschauten, auf das, was nicht der Norm entsprach.

Model hatte den Rat, nie etwas zu fotografieren, was sie gleichgültig lässt, verinnerlicht. Als Flaneurin nahm sie Bilder auf wie jenes einer ins Lesen versunkenen alten Dame im Bois de Boulogne, deren Mimik ihre Ergriffenheit spiegelt. Oder das Foto eines schlafenden Landstreichers am Seine-Ufer: Sein Körper scheint sich in die Rundungen der Bank hineinzuschmiegen. Der Leib wird zum Ornament der Architektur, ein surreales Detail ihrer sozial engagierten Fotografie.

Faustschläge als Auslöser

"Man darf nie auf den Auslöser drücken, bevor das Motiv einem einen Faustschlag auf den Solarplexus gibt", sagte Model. Und tatsächlich sind ihre im Bruchteil einer Sekunde eingefrorenen Gesichter um so vieles belebter als die Antlitze in inszenierter Fotografie, sie blicken nicht in die Kamera, sondern werden von ihr im unmittelbaren Wortsinn eingefangen. Diane Arbus wartete zwar auch auf den richtigen Moment, aber sie dirigierte ihr Gegenüber auch. Der ganze Prozess, die Anreise, die Kommunikation, war für Arbus das, was sie interessierte. Das Fotografieren führte sie, die in einer Wohlstandsblase aufgewachsen war, an fremde Orte, das andere erregte sie. Ein Weggefährte beschrieb die Fotos letztlich als Trophäen einer Abenteurerin.

Nan Goldin: "C.Z. and Max on the beach", Truro, MA 1976
Foto: Nan Goldin

Dieses durchaus voyeuristische Prinzip fiel bei Goldin vollkommen weg. Ihre Fotografie sollte ein Speicher des realen Lebens sein, eine Erinnerung an ihr Leben in der selbst gewählten Familie der LGTB-Community – und der Drogenszene. Den sogenannten "Heroine Chic", den sie mit ihren schonungslosen, sexuell freizügigen Fotos begründete, war nicht das Resultat von Beobachtungen, sondern von intensiven Beziehungen: "Ich gebe hier die Party. Das ist meine Familie, meine Geschichte." (Anne Katrin Feßler, 5.1.2019)