Heiner Müller 1992 vor einem Plakat der Wochenzeitschrift "Wochenpost": Das Zitat stammte von ihm.

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1. Weil er öffentlich nachdachte

Zuletzt hatte ihn die Muse der dramatischen Dichtkunst von sich gestoßen. Mit dem Abschluss der deutschen Wiedervereinigung war Heiner Müller (1929–1995) endgültig zum Orakel geworden. Bewaffnet mit der unvermeidlichen Zigarre und einem Whiskeyglas, saß der prominenteste Stückeschreiber der DDR Anfang der Neunziger in allen TV-Studios und produzierte Paradoxa am Fließband.

Das bebrillte Gesicht von dichtem Rauch umwölkt, brach Müller mit sanfter Stimme den damals aktuellen Stand der weltgeschichtlichen Entwicklung auf ein paar denkwürdige Anekdoten herunter. Am Ziel seiner Bemühungen hielt er fest, auch wenn dieses mit dem Sieg des Kapitalismus in unerreichbare Ferne gerückt schien. Es hieß: die Hochzeit von Politik und Kunst im Namen der Utopie einer sozial gerechten Gesellschaft.

Wegen der Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens hatte Müller aufgehört, Stücke zu schreiben. Der Triumph des Kapitals war ihm keinen Blankvers (mehr) wert. Stattdessen gab er die allwissende Sphinx. Müller verglich West und Ost mit Rom und Karthago. Die frühen Neunziger waren die letzte Geschichtsperiode, in der man noch dialektisch argumentieren durfte, um öffentlich gehört zu werden. Müller hatte sich darauf verlegt, das Berliner Ensemble und die Ost-Akademie der Künste zu leiten. Zum Dramatisieren fehlte es ihm in Helmut Kohls Bundesrepublik an Zeit, Lust und Gelegenheit. Das Fließen der Kapitalströme, bemerkte er, sei seinem Wesen nach untheatralisch.

2. Weil er von der Revolution träumte

Heiner Müller war als gebürtiger Sachse der Sohn eines SPD-Funktionärs, der nach Errichtung der DDR in den Westen "rübermachte". Müller selbst blieb zeitlebens Parteigänger des sozialistischen Projekts in der vormaligen Sowjetzone. Sein eigenes Schreiben schulte er früh an den Modellversuchen Bertolt Brechts. Mindestens so sehr sprengte Müller diese. Für sein materialistisches "Volksstück" Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande (1961) wurde er von den Behörden gemaßregelt und lange an der Ausübung seines Berufs gehindert.

Müller wurde listenreich. Was er am Stalinismus auszusetzen hatte, kleidete er fortan in mythische Gewänder. Dem Volksstück aber gewann er den (frei gehandhabten) Vers zurück. Auf der Ebene des technischen Standards erklomm Müller mit Stücken wie Philoktet oder Zement den Abschluss eines Höhenkamms, der vordem von Schiller, Kleist und Brecht gebildet worden war.

3. Weil er vom Mars erzählt, der unsere Zukunft gewesen wäre

Der Blick "durch die Binde der jeweils herrschenden Ordnung" hat Müller nicht davon abgehalten, an der Idee einer Gesellschaft ohne Ausbeutung (Kapitalismus) und Disziplinierung (Sozialismus) festzuhalten. Seine verquere Obsession mit dem Thema Revolution mutet heute womöglich fremd an. Die hohen Blutzölle im Gefolge des "Fortschritts" hat Heiner Müller niemals geleugnet. Seine Texte besitzen eine Zärtlichkeit, die hinter der Maske der Lakonie leicht zu übersehen ist. Es gibt keine herzzerreißenderen Figuren als die Bier trinkenden, auf Traktoren hoffenden Genossenschaftsbauern in Müllers Die Umsiedlerin.

Generationen von Spielvögten haben seine Stücke als Tarantino-Blutopern missverstanden. In den 1980ern wurden zeitweise 500 Müller-Inszenierungen pro Jahr angefertigt. Trotz Suhrkamp-Großausgabe droht das Theater dieses Einzelgängers in einem tiefen Graben zu verschwinden. Die Annehmlichkeiten des Internets, vor allem dessen Zustimmungsrituale, verhindern wirkungsvoll, über die Austragung von Widersprüchen nachzudenken.

4. Weil Revolutionen Mittel der Verlangsamung sind

"In der Zeit des Verrats / Sind die Landschaften schön." Müller selbst warf der deutschen Philologie vor, sie würde aus Sprengsätzen "Teekannensprüche" machen. Tatsächlich eignet seinen eigenen Texten eine Tendenz zum Aphorismus. Von sich selbst sagte der Dramatiker einmal, er habe mit seinen Kommentaren "nie das Niveau meiner Stücke" erreicht. Auch nach dem Kollaps des Kommunismus versiegte Müllers akutes Interesse an revolutionären Tendenzen nie.

Er sagte Migrationsströme aus der Dritten Welt voraus und glaubte zuletzt an einen "Sieg der Landschaften" über die Spezies Mensch. Seine Sorge galt dem ehrenden Umgang mit den Toten. Er wünschte, dass ihnen im Kolosseum der Kultur Sitz und Stimme verliehen würden. Revolutionen, sagte er (selbst bereits krebskrank), seien Gelegenheiten, um die Beschleunigung der Menschheitsgeschichte zu bremsen. (Ronald Pohl, 9.1.2019)