Matera gilt – neben Aleppo – als älteste Stadt der Welt.

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Den prächtigsten Blick auf Matera hat man von der Murgia: Von dem Hochplateau aus, das durch die tiefe Schlucht des Flusses Gravina von der Stadt getrennt ist, sieht Matera aus wie eine überdimensionale italienische Weihnachtskrippe: Die in die gegenüberliegende Wand des Canyons gebauten kleinen Häuser und Kirchen wirken wie übereinandergestapelt.

Das pittoreske Häusergewirr nennt man "Sassi" (Steine) – und tatsächlich handelt es sich bei den Quartieren um in Tuffstein gehauene Höhlensiedlungen, die schon von den Steinzeitmenschen als Behausungen genutzt wurden und die in der Spätantike und im Mittelalter weiter ausgebaut wurden. Im Laufe der Jahrhunderte ist ein ganzes System übereinanderliegender Höhlenwohnungen in die Felsen des Canyons gegraben worden. Zusammen mit dem syrischen Aleppo gilt Matera, das schon vor 9000 Jahren urbane Strukturen aufwies, als älteste Stadt der Welt.

Höhlen, Höhlen, Höhlen

Rund 3000 Höhlenwohnungen hat man in den Sassi von Matera gezählt. Hinzu kommen 162 Höhlenkirchen. Was heute als atemberaubende Filmkulisse dient – etwa für Mel Gibsons Die Passion Christi -, war bis vor wenigen Jahrzehnten ein Ort bitterer Armut. Noch in den Fünfzigerjahren wohnten 15.000 Menschen in den Sassi, ohne fließendes Wasser, Kanalisation oder Heizung. "Ich habe noch nie ein solches Elend erblickt", schrieb Carlo Levi in seinem 1945 erschienenen Roman Christus kam nur bis Eboli über Matera.

Mit seinem Buchtitel griff Levi eine Redensart auf, mit der die Süditaliener ausdrückten, dass sie sich von Gott und der Welt verlassen fühlten. Matera galt nach dem Zweiten Weltkrieg als "Schande Italiens", die der damalige Ministerpräsident Alcide De Gasperi 1953 räumen ließ. Die Sassi begannen zu verfallen.

1964 drehte Pier Paolo Pasolini seinen Jesus-Film Das 1. Evangelium – Matthäus in den damals verlassenen Sassi. Von da an galt Matera unter den italienischen Linksintellektuellen als Geheimtipp. In den 1980ern wagten sich auch die ersten Bewohner wieder in das Quartier und begannen die Höhlenwohnungen zu renovieren. 1986 förderte der italienische Staat die Wiedergeburt der Sassi mit einem Kredit von 100 Milliarden Lire (heute 50 Millionen Euro). Heute gibt es in den Sassi sogar Fünf-Sterne-Unterkünfte.

Höchste Airbnb-Dichte der Welt

1993 erfolgte eine weitere, entscheidende Wende: Die Sassi von Matera wurden von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt. Inzwischen wohnen und arbeiten wieder rund 3000 Personen in den Sassi – die meisten leben vom Tourismus. Seit 2010 hat sich die Zahl der Gästebetten in Matera auf 5000 verfünffacht; in den Gassen sind Dutzende von Bars und Trattorien entstanden, die Dichte der Airbnb-Wohnungen ist die höchste der Welt. Und nun steht die Kleinstadt in der Region Basilicata vor einem weiteren Sprung: Am 19. Jänner wird der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella in Matera das Jahr als Kulturhauptstadt Europas eröffnen.

Nicht wenige Bürger haben auch Bedenken. "Ja, das Kulturjahr wird der Stadt zu neuen Touristenströmen verhelfen, aber wir müssen aufpassen, dass wir dabei nicht die Seele verlieren", betont die in Rom lebende, aber aus Matera stammende Schriftstellerin Mariolina Venezia. Tatsächlich wirken die Sassi schon heute wie ein Freilichtmuseum – es besteht die Gefahr einer touristischen Übernutzung. Letztes Jahr zählte Matera 450.000 Übernachtungen – im Kulturjahr sollen es 800.000 werden.

Gefahr des "Over-Tourism"

Paolo Verri, Programmdirektor des Kulturjahres, ist sich der Gefahr des "Over-Tourism" bewusst. "Matera ist eine fragile Stadt, unser Ziel ist deshalb die Förderung eines sanften Tourismus", betont Verri. Dies will der Programmdirektor etwa damit erreichen, dass die Besucher während des Kulturjahres zu "zeitweiligen Bürgerinnen und Bürgern" gemacht werden: Die Gäste erhalten keine Eintrittstickets für einzelne Veranstaltungen, sondern einen Reisepass. Ein zentrales Anliegen des Direktors war es auch, dass die Einheimischen in die unzähligen kulturellen Veranstaltungen des Kulturjahres einbezogen werden. Zwischen Mai und Juni, wenn die Sassi zur Freilichtbühne werden, wo das Purgatorium von Dante aufgeführt wird, sind 800 Bewohnerinnen und Bewohner von Matera als Komparsen vorgesehen.

Verri ist überzeugt, dass vom Kulturjahr die ganze Region profitieren wird. Nötig wäre es. Denn die Basilicata mit ihren nur 570.000 Einwohnern zählt zu den ärmsten Regionen im wenig entwickelten Mezzogiorno, dem Süden Italiens. Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen liegt bei 40 Prozent; viele Junge wandern ab.

Es fehlt an staatlichen Infrastrukturen und privaten Investitionen. Matera ist ein gutes Beispiel für die Vernachlässigung durch Rom: Die italienische Staatsbahn fährt zwar, von Rom und Neapel aus kommend, etwas weiter als bis nach Eboli. Aber sie hält in Ferrandina, 35 Kilometer von Matera entfernt. Als Alternative bietet sich einzig eine kleine Privatbahn an, mit der man von Bari aus in die Kulturhauptstadt Europas gelangt – aber diese benötigt für die 70 Kilometer lange Strecke über zwei Stunden.

Der Tourismusboom, der während des Kulturjahres erwartet wird, könnte sich deshalb als Strohfeuer erweisen. Oder, um bei Carlo Levi zu bleiben: Christus kommt zwar nächstes Jahr nicht nur nach Eboli, sondern auch nach Matera – aber ob er später wieder einmal zurückkehren wird, ist ungewiss. (Dominik Straub, 8.1.2019)