"Ich warne Diskonter davor, den Supermärkten immer ähnlicher zu werden", sagt Peter Schnedlitz, Leiter des Instituts für Handel und Marketing der Wiener Wirtschaftsuni.

Matthias Cremer

STANDARD: Sie analysieren den Handel seit 40 Jahren. Wird man da nicht zum Einkaufsmuffel?

Schnedlitz: Ich gehe nach wie vor gern einkaufen, sofern es meine Frau samstags zulässt. Und meinen Studenten rate ich, im Urlaub nicht nur Kirchen und Museen zu besuchen, sondern auch in die Geschäfte zu gehen. Dort erfahren sie weitaus mehr über ein Land.

STANDARD: Sie kennen jeden Marketingtrick. Sind Sie als Konsument überhaupt noch verführbar?

Schnedlitz: Der Mensch ist Gott sei Dank gegen Beeinflussung robuster, als manch Lobbyist wahrhaben will. Er ist schwer prognostizierbar, und es gibt kein geheimes Tool dafür. Im Gegenteil: Kaufverhalten vorherzusehen wird zusehends schwieriger, denn es ist von Neugier, nicht von Gewohnheiten geprägt. Ob der Basar von Istanbul oder unsere Geschäfte: Der Handel wird ein Marktplatz bleiben. Und das Einkaufszentrum ist der Dorfplatz der Großstadtkinder.

STANDARD: Sie sagten einst, man trägt Einkaufsgewohnheiten wie einen Rucksack mit sich herum. Was steckt denn in Ihrem Binkerl?

Schnedlitz: Bei vier Joghurts zum Preis von zwei kann ich nicht widerstehen. Und es kann mir nichts Schlimmeres passieren, als dass ich Ski kaufe, und 100 Meter weiter sehe ich die gleichen günstiger. Ich bin ein Erfolgseinkäufer.

STANDARD: Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten vieles prognostiziert. Wo lagen Sie falsch?

Schnedlitz: 99 Prozent dessen, was ich erwartet habe, ist eingetreten. Was ich nicht dachte, ist, dass Diskonter einen derart hohen Marktanteil erreichen – dass Hofer etwa beim Marktanteil die 20-Prozent-Marke überspringt und Billa überholt. Es war nicht absehbar, dass Diskonter so stark in Qualität und Non-Food investieren.

STANDARD: Die Grenzen zwischen Diskontern und klassischen Supermärkten verschwimmen.

Schnedlitz: Die Zeit für einen neuen Harddiskonter wird kommen, für einen, der mit viel aggressiveren Preisen und noch weniger Service in den Markt einsteigt. Ein gutes Beispiel dafür im Non-Food-Bereich ist Action ...

STANDARD: ... ein stark expandierender Restposteneinkäufer.

Schnedlitz: Man glaubt nicht, wie viele Leute dort einkaufen. Aber auch die große internationale Arbeitsteilung war nicht vorhersehbar. Ein Wasserglas etwa wird in China um 50 Cent gekauft. Transportkosten machen zwei Cent aus, am Ende des Tages beträgt der Verkaufspreis 2,90. Dieser Aufschlag ist nur aufgrund der starken Aufteilung möglich. Ich warne jedoch Diskonter davor, den Supermärkten immer ähnlicher zu werden.

STANDARD: Was ist an einem Upgrade, einer Aufwertung so schlecht?

Schnedlitz: Sie verlieren Preisimage. Hofer streute in den 70er-Jahren etwa im Winter, weil er beim Heizen sparte, Sägespäne aus, damit die Leute am gefrorenen Boden nicht ausrutschten. Da gab es Kunden, die haben Getränke umgefüllt, Weinbrand etwa in einen Scharlachberg. Mein Vorgänger an der Wirtschaftsuni vertrat noch die Hypothese: Je größer die Marktbedeutung der Diskonter ist, desto schlechter wird die Qualität, desto mehr ist die Gesundheit gefährdet. Er war Bekenner des Bedienungshandels.

Peter Schnedlitz sieht den Handel in Bereiche vorstoßen, in denen die Landwirtschaft einiges verschlafen hat.

STANDARD: Was war rückblickend betrachtet der größte Treiber des Umbruchs?

Schnedlitz: Die Motorisierung hat den Handel entscheidend geprägt. Mit ihr kamen große Flächen auf die grüne Wiese, Selbstbedienung und Filialisierung. Die Shopping City Süd wollte bei ihrer Gründung einst unbedingt Meinl als Mieter. Vösendorf war damals noch eine Gstätten – Julius Meinl lehnte vehement ab, er meinte, warum sollen die Wiener in diese Sumpfgegend fahren, wo sie doch in der Stadt so schöne Geschäfte haben.

STANDARD: Mittlerweile liefert sich Hofer mit Rewe Duelle um höhere Bio-Standards – zulasten der Bauern, die bei vielen Auflagen nicht mehr mitkönnen. Sind Händler die besseren Produzenten?

Schnedlitz: Sie stoßen in Bereiche vor, in denen die Markenindustrie etwas verschlafen hat, wo sie sich profilieren können. Es ist fast skurril, dass Marken wie "Ja! Natürlich" und "Zurück zum Ursprung" vom Handel kommen. Das wäre die Hausaufgabe der Landwirtschaft gewesen – beim EU-Beitritt ist ja noch groß vom Feinkostladen Österreich geredet worden. Tatsächlich aber hechelt diese den Handelsmarken hinterher.

STANDARD: Supermärkte besitzen heute große Fleischereien und Bäckereien, produzieren Schokolade und Wein. Halten Sie das für gut?

Schnedlitz: Es gibt ein Limit, das damit einhergeht, dass Menschen keine Übermacht eines Konzerns wollen. Was im Übrigen auch ein Problem für Amazon ist. Ich bin überzeugt, dass es hier Gegenbewegungen geben wird. Hinter 30 Prozent Marktanteil steht immer gewisse Macht. Ich begrüße das nicht, ich hätte lieber mehr Konkurrenz am Markt. Und ich bin froh, dass Österreich in der EU ist, weil sie es als Erste wagte, Auflagen zu verhängen und Märkte zu beschränken. Ich wüsste nicht, wie es sonst im Handel aussähe. Die Marktanteile der zwei großen Lebensmittelketten wären wohl noch größer.

STANDARD: Es gibt ja nun einen neuen Leitfaden gegen unlauteren Wettbewerb. Müssen sich Lieferanten künftig nicht mehr fürchten?

Schnedlitz: Es ist keine Lösung, aber wenn es nur zu 50 Prozent wirkt, ist das auch schon was. Oligopole bergen Risiken, und hohe Konzentration führt nie zu niedrigeren Preisen. Ich denke allerdings auch, dass am Ende des Tages Konkurrenz über Harmonie siegt. In der Industrie etwa gibt es heute große Rotation im Management, Mitarbeiter sind auf kurzfristige Maximierung aus und verzichten auf Kooperationen. Zu meiner Studienzeit waren die Chefs von Henkel, Nestlé oder L‘Oréal noch bekannt wie Minister.

STANDARD: Sie waren stets skeptisch ob des Onlinehypes. Glauben Sie immer noch nicht an den Weltsieg von Amazon?

Schnedlitz: Nein, aber ich bin enttäuscht, dass es kleine Händler nicht schaffen, einen markanten Marktanteil zu erreichen. In Wirklichkeit wachsen nur die zehn großen Onlinehändler, unter ihnen wiederum vor allem Amazon und Zalando. The winner takes it all.

STANDARD: Auch hier nähern sich Onlinehändler klassischen stationären Vertriebsmodellen an?

Schnedlitz: Je mehr Frischesortimente Onlinehändler anbieten, desto ähnlicher werden sie normalen Händlern. Amazon Fresh wollte die ganze Welt erobern, jetzt stellt sich raus, es gibt Flops und Verluste. Otto Versand wollte schon vor 20 Jahren Hamburg und Berlin flächendeckend mit Lebensmitteln beliefern. Ich bestellte dort testweise Wurst: Angeboten wurde mir – eine Wurst aus Holz, ein Spielzeug. Wäre der Onlinehandel so ein Erfolg, würde ich mich als Chef ruhig hinsetzen, die Hände reiben und warten, bis alle stationären Geschäfte an die Wand fahren.

STANDARD: Amazon ist in Österreich aber durchaus umtriebig.

Schnedlitz: Österreich ist unwichtig: Weniger als ein Prozent des Binnenhandels der Welt spielen sich hier ab. Warum tut es sich Amazon dann an, hier aktiv zu sein? Weil wir hohe Wertschöpfung haben. Österreich eignet sich gut als billiger Testmarkt. Deutschland zu erobern ist weitaus teuer.

STANDARD: Warum glauben Sie, dass der Umsatz des Handels ohne stationäre Geschäfte um ein Drittel einbrechen würde?

Schnedlitz: Es gibt nichts, das für stärkere Kaufimpulse sorgt, als die Realität. Nichts ist so wirklich wie die Wirklichkeit, wie schon Paul Watzlawick sagte. Dass Geschäfte die besten Impulserreger sind, ist auch empirisch belegt. Produkte haben größere Signaleffekte als jeder Bildschirm. Betriebswirtschaftlich gesehen gibt es aber zu viele Geschäfte in Österreich. In Deutschland sind sie im Schnitt größer, haben ein weiteres Einzugsgebiet und höhere Flächenproduktivität. Die Preise in Österreich können daher nie jenen in Deutschland entsprechen.

STANDARD: Gibt es spielentscheidende Innovationen, um die stationäre Händler künftig nicht mehr herumkommen?

Schnedlitz: Karl Wlaschek (Billa-Gründer, Anm.) hat bei seinem einzigen Auftritt in der Wirtschaftsuni vor 20 Jahren gesagt: Das Geschäft muss sauber sein, die Leute müssen freundlich sein, und die Preise müssen passen. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Ein Forscher fand jüngst nach viel empirischem Aufwand heraus, dass ein Konsument umso wertvoller ist, je häufiger er kauft, je höher die Bonsumme ist und je kürzer er im Geschäft war. Brauchen wir dazu die Wissenschaft? Für die Erkenntnis – oft und viel kaufen – muss ich keine 100.000 Datensätze untersuchen. (Verena Kainrath,10.1.2019)