Alaska, ein Sonntagmorgen mitten im Sommer, der Himmel ist bedeckt mit Regenwolken. Seit Stunden sind wir unterwegs, Meile für Meile durch eine Landschaft, in der Menschen kaum Spuren hinterlassen haben. Weit und breit nichts. Nur immergrüne Fichten, die bohnenstangengleich aus dem kalten Boden wachsen und kleine Seen und Teiche rahmen, dahinter und rundum Bergmassive. Wir erreichen den kleinen Ort Nelchina. Er liegt rechts und links von der Straße etwa in der Mitte zwischen der kanadischen Grenze und Anchorage, das uns Ziel für diesen Streckenabschnitt ist. Zwar als Ort auf dem Glenn Highway verzeichnet, ist er doch nicht mehr als eine lose Ansammlung von Grundstücken und Häusern, die heruntergekommen und verlassen wirken. Trotzdem halten wir. Ein selbstgeschriebenes Schild am Straßenrand verspricht Kaffee und Frühstück.

Das abgeschnittene Amerika der Hoffnungs- suchenden, die selbst falschen Wahlversprechen Glauben schenken müssen.
Foto: Manfred Poor

Auch dieser Ort, das Haus, in dessen Einfahrt wir parken, muten nach verlassener Filmkulisse an. Aus dem Dach wächst eine riesige Antenne. Die Fenster sind beschlagen. Die Veranda ist vollgeräumt mit Schrott, rostigen Maschinen, Holzkisten, Tontöpfen, Weihnachtsdekoration und Elchgeweihen. Alles steht zum Verkauf. Vielleicht ist es das Kalte, das Feuchte, das Nordwetter eben, das uns ein Gefühl von Einsamkeit spüren lässt, vielleicht ist es aber auch tatsächlich dieser spezielle Ort, der abgeschnitten im Nirgendwo das spiegelt, als was Alaska beschrieben wird – die letzte Grenze, eine Schwellenangst.

Wir betreten das Geschäft, sind mit wenig Platz in den zugestellten Gängen konfrontiert, mit kleinen und größeren Gegenständen des Haushaltsbedarfs, auch Postkarten mit Motiven finden wir, die fern von diesem Ort aufgenommen wurden und mit der Schönheit Alaskas protzen. Irgendwo steht ein Getränkeautomat, irgendwo finden wir ein Regal mit in Plastik verpackten Frühstückskuchen.

Die Mikrowelle piepst

Eine Fensterrahmung ohne Glas öffnet uns den Blick in einen Nebenraum hinter der Kassentheke. Dort sitzt ein Mann mit Baseballmütze, langem Bart, dunklen Brillengläsern und Winterjacke, sitzt inmitten von Papierstapeln, die sich vermutlich über Jahre angesammelt haben, Lebensreste, denke ich, die besser vergessen sind, auch auf der Theke liegen geöffnete und ungeöffnete Rechnungen.

"You can smoke in here", sagt der Mann, zündet sich selbst eine Zigarette an und stellt sich zu uns. Im gleichen Moment betritt ein Junge den Raum, in der Hand hält er einen Teller, darauf liegen gefrorene Speckstreifen. "That's my grandson", sagt der Mann, und wir sehen dem Jungen nach, wie er auf die Mikrowelle zusteuert, die in einem der Regale steht. Hinter dem Regal, das unseren Blicken bislang verborgen geblieben ist, hängt ein Transparent. In weißen Lettern auf Rot geschrieben lesen wir: "Make America great again!"

Die Mikrowelle piepst, erneut wird die Tür geöffnet, und ein junger Mann schiebt einen in die Jahre gekommenen Kinderwagen in das Geschäft, eine junge Frau, eingewickelt in eine Decke, folgt ihm. Dass das sein Sohn und sein anderer Enkel seien, sagt der Mann, "we are all living together".

Nachdem wir das Geschäft verlassen haben, sehen wir noch einen dritten Jungen. Er läuft um einen alten Truck herum, einmal in die eine, dann in die andere Richtung. Hier ist das andere Amerika, denke ich, angesiedelt an Durchzugsorten, abgeschnitten und mit dem Rest der Welt nur über Fernsehantennen verbunden, das Amerika der Hoffnungssuchenden, jener, die selbst falschen Wahlversprechen Glauben schenken müssen. Nelchina ist kein Einzelfall, auch diese Familie nicht, die wenig hat, jedoch ein Dach über dem Kopf, ist Realität fernab der Schönheit des Landes, die Touristen und Reisende lockt. Rechts und links der Highways in Fichtenwäldern versteckt liegt das fast Verlassene, Desolate, über das bald Natur wachsen wird.

Wir erreichen die Peripherie von Anchorage und beziehen Quartier in einem Motel. "Low weekly rates" steht zwischen zwei Fensterreihen auf die Fassade geschrieben. Die Farbe bröckelt bereits ab. Max, der Besitzer des Motels, führt uns in unser Zimmer im ersten Stock, eine schwarze Katze schleicht um unsere Beine. Max zeigt uns das Gemeinschaftsbad und die Gemeinschaftsküche. Im Zimmer ist Platz für ein schmales Bett und einen Tisch mit zwei kompakten Stühlen, für mehr nicht.

Blicken wir aus dem Fenster, sehen wir unter uns den Parkplatz und auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Autohändler, noch in Sichtweite liegt ein Liquor-Store. Weiter dahinter das Zentrum von Anchorage. Downtown, nicht mehr als vier Blocks, in denen sich das touristische Geschehen konzentriert, munteres Bartreiben, kitschige Trappernostalgie. Am Stadtrand sieht die Sache anders aus. Hier in diesem Motel. Durch die dünnen Wände hören wir Geschrei, etwas Verrücktes ist im Stiegenhaus und in den engen Gängen spürbar. Niemand außer uns wohnt hier kürzer als eine Woche.

Das abgeschnittene Amerika der Hoffnungssuchenden, die selbst falschen Wahlversprechen Glauben schenken müssen.
Foto: Manfred Poor

Er schreit, dann schreit sie

Im Zimmer nebenan wohnen ein Mann, seine Frau und zwei kleine Kinder. Er schreit, dann schreit sie, dann weinen die Kinder. Ich sehe die Frau mit einer Papiertüte mit Lebensmitteln in der Gemeinschaftsküche verschwinden, dann sperrt sie sich lange ins Bad ein. Ich sehe den Mann auf dem Gang, in seiner Handfläche sind gesammelte Zigarettenstummel, in seinem Mundwinkel hängt ein Joint. Sein Junge schüttelt eine Packung Streichhölzer.

Auch andere Familien wohnen in dem Motel, morgens verlassen sie es gemeinsam und abends kehren sie gemeinsam zurück, und ich frage mich, wie ihre Lebenssituation ausgesehen hat, bevor sie hierhergezogen sind. Die Enge, in der sie leben müssen, bedrückt mich. Dass sich Max, der Motel-Besitzer, um sie kümmert, um jede und jeden Einzelnen, als wären sie seine Familie, schnürt die Bedrückung wieder ein wenig auf.

Lange ist es hell zu dieser Jahreszeit, die Nächte sind kurz, und es zieht mich aus dem Zimmer, aus der Enge, weg von dem Geschrei aus dem Nebenzimmer. Max steht vor dem Motel-Eingang, trägt Latexhandschuhe und raucht eine selbstgedrehte Zigarette. Um ihn herum hat sich eine Gruppe Männer unterschiedlichen Alters versammelt. Es ist kühl, alle tragen sie Jacken, alle zittern, wenn sie an ihren Zigaretten ziehen, alle sehen vom Leben gezeichnet aus.

Max sagt, dass er die Handschuhe als Schutz bräuchte, dass ich aber keine Angst haben müsste, bei ihnen sei ich sicher. Die Gegend, sagt er, sei schlimm, und viele, die obdachlos sind, wollen ins Motel, dort übernachten, wo es warm ist. Die anderen Männer nicken, rauchen und blicken Richtung Horizont, der Fastfoodkettenschilder zeigt anstatt eines Himmels. Dass Obdachlose und Drogensüchtige zum Stadtbild gehören, sagt er, wieder nicken die anderen, ich denke, wie indianische Totempfähle stehen sie da.

Plötzlich hören wir ein Schreien, es gehört zu einem Mann, der über den Parkplatz in unsere Richtung wankt, er schreit Unverständliches, schlägt mit den Fäusten gegen die geparkten Wagen, nähert sich. Max atmet durch, lässt die Zigarette fallen, auch die anderen stellen sich auf eine Konfrontation ein. Im letzten Moment macht der Mann kehrt, richtet sein Schreien gegen eine Welt, die nur er sehen kann, und geht. Das Schreien wird leiser, zieht in Richtung Liquor-Store. Max sieht mich mit einem müden Lächeln an. Es ist ein kaputtes Land, sagt er, dann streichelt er die Katze.

Das, was übrig geblieben ist

Es ist ein kaputtes Land, das hallt in mir nach, Worte, die ich noch lange höre, die mir immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden, mit jeder weiteren Meile, die wir zurücklegen, weiter durch die USA, vorbei an verlassenen Stätten, aufgelassenen Hotels oder Tankstellen, in den Süden nach Kanada zurück. Verfall säumt unseren weiteren Weg, etwas, das einmal Existenz gewesen war und der Traum von einer besseren Zukunft. Überall sehen wir die Reste davon. Ausgehöhlte Häuser, Zurückgelassenes, Gegenstände, die einmal Bedeutung hatten und jetzt unter dem Staub der Zeit ersticken. Ich frage mich, wo sind die Menschen hin, nachdem sie ihre Träume verlassen mussten. Ein Haus im Nirgendwo, das zerbrochene Glas der Fenster mit Holzbalken verriegelt. Absperrband um leere Zapfsäulen gewickelt. Das, was übrig geblieben ist, mit Graffiti überzogen. Das Land atmet Abwesendes, aber alles Abwesende ist doch einmal da gewesen, war da und ging verloren.

In jeder Stadt ein ähnliches Bild, Vancouver, und wir begegnen vielen Menschen, die ohne Obdach und ohne Hoffnung sind, begegnen ihrem leeren Blick, der weiß, dass ihnen nicht geholfen wird. In den Parks sitzen sie, schlafen, warten. Überstehen die kalte Nacht, hüllen sich in Rauch anstatt wärmender Decken. Tagsüber sind sie Schatten, einzig ihre Stimme holt sie für kurze Zeit aus der Schattenwelt.

An einer Kreuzung, die zwei Einkaufsstraßen miteinander verbindet, steht ein Mann, leicht bekleidet tänzelt er vor und zurück und um eine Laterne, in seiner Hand hält er eine Mütze, in der er Münzen sammelt. Wieder und wieder singt er diese eine Strophe in monotoner Melodie: "Homeless and hungry, hungry but free, need help, need help."

Geholfen wird ihm nicht, kaum ein Passant bleibt stehen, nur wenige hören seinen Gesang, der ein Gesang von vielen ist, unzähligen. Uns begleitet der Gesang auf den Wegen durch die Stadt, auch über manch unsichtbare Grenze hinweg, die, quert man eine Kreuzung, plötzlich und unerwartet überschritten ist. Trotz gleichbleibender Umgebung wird das Unsichtbare mehr als sichtbar, Männer und Frauen drängen sich an der Hausmauer, ihr Besitz, das Wenige, ist nah, griffbereit, dieser Ort ist eine andere Art Community, ist aber auch ein Über-Lebensraum, der Schwellenraum eines Systems, das Menschen in die Enge treibt, das sie sozial und medizinisch nicht versorgt, sie ihrem Schicksal überlässt.

Geisterhafte Parallelwelten

Selbst in kleineren Städten wie dem am Meer gelegenen Prince Rupert, dieser Ahnung von Stadt, die Anlaufplatz von Kreuzfahrtschiffen ist, treffen wir auf die Parallelwelt, die sich ihre Räume erzwingen muss. Manchmal ist der Raum nur der Körper eines Menschen, der geisterhaft durch die Straßen treibt. Manchmal sind diese Räume verortet, wie das Zeltlager in den Ausläufern von Victoria, der Hauptstadt von British Columbia.

Es ist Mitte September, der kühle Nordwind hat den Süden des Landes erreicht, nicht mehr lange, und die Temperaturen sinken weiter, nicht mehr lange, und die Stadt wird das Zeltlager, ein Camp, das Dutzenden von Obdachlosen Schutz und Heimat ist, räumen. Stadtsäuberung, denken wir, unter dem Deckmantel von Anrainerbeschwerden. Die Kriminalität sei, seitdem es das Zeltlager gebe, gestiegen, sagen die Anrainer in den Medien, sie sagen auch, dass sich niemand mehr sicher fühle.

Knapp ein Jahr ist das Camp bewohnt gewesen – jetzt ist es geschlossen, "cleaned up", und die Stadtverwaltung ist bemüht, den Bewohnern des Camps eine permanente Unterkunft zu suchen.

Ein riesiges Werbeplakat verdeckt eine Hausmauer in San Franciscos Mission District, in jenem Teil dieses Stadtbezirks, der nicht Heimat der mexikanischen Einwanderer ist, der nicht mit farbenprächtigen Murales und dem Hispanic Flair Touristen anzieht, jenem Teil, dessen Straßen und Hinterhöfe viele Obdachlose ihr Zuhause nennen.

Eine zweite Stadtwelt

Viele vom Staat Vergessene, deren einziger Ausweg in sichtbaren und hörbaren Wahnsinn führt. "Help the homeless, stop the madness", heißt es auf dem Plakat, das einen mit Pappkarton zugedeckten Mann zeigt, darunter steht eine Telefonnummer, und ruft man die Nummer an, kann man helfen und spenden. Unter dem Plakat vor einem eingezäunten Parkplatz stehen Männer und Frauen, sitzen in Rollstühlen und auf dem Boden. Sie alle sind obdachlos.

Armut im reichen San Francisco.
Foto: Manfred Poor

Längst ist Obdachlosigkeit ein zentrales, kaum zu bewältigendes Thema San Franciscos geworden, hat sich über die steilen Hügel gestreut, ist eine zweite Stadtwelt, durch die man sich bewegt.

Auch wir bewegen uns durch sie, morgens zum Beispiel, wenn wir an jenen vorbeigehen, die eingerollt in einen Schlafsack vor der Glastür eines protzigen Einkaufszentrums genächtigt haben. Unbedingt zu Habendes preist das Innere durch glamourös und stylish dekorierte Auslagen an, das Must-have an sinnlosen Dingen, wer besitzt, lebt, wer mehr besitzt, lebt besser, oder? Systemimmanent zu Erreichendes geht auf Kosten anderer, oder?, auf Kosten desjenigen, der sein Heim vor Glastüren aufgeschlagen hat – und dahinter die Welt, die ihn verstoßen hat, cleaned up, ausgestoßen. Armut und Reichtum, zwei Welten, die zu einem Bild geworden sind, aus dem lautstark Widersprüche sprechen. Das ist nicht nur in San Francisco so, nicht nur in den Vereinigten Staaten oder in Kanada.

Warum wir in die USA zurückgekommen seien, fragt uns eine Frau in einem Café in North Beach, Kalifornien, nachdem ich ihr erzähle, dass wir vor zwei Jahren schon einmal in San Francisco waren und durch die Staaten gereist sind. Sie an unserer Stelle, sagt sie, wäre nicht wiedergekommen, "everything has changed", und nichts zum Guten hin.

Ich muss ihr zustimmen, auch wir, die wir nur Durchreisende in diesem Teil der Welt sind, haben die Veränderungen gesehen und gespürt, das Abwesende, auch das Gefühl von Machtlosigkeit schmerzlich wahrgenommen, gegen ein System, das jenen gibt, die ohnehin schon reichlich haben, und gegen eine Politik, die den Menschen ihren Lebensraum nimmt und ihr Leben in ein Überleben zwingt. (Isabella Feimer, 13.1.2019)