Jason Lutes Blick auf die Goldenen Zwanziger in Berlin.

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"Es wird Nacht im Berlin der Wilden Zwanziger", erschienen im Taschen-Verlag, spielt auf das rauschende Nachtleben in den Clubs und Varietés dieser Zeit an...

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... Der neue Tanz, die neue Musik, die neu entstehende Unterhaltungskultur und ihre Diven, Stars und Skandalnudeln nehmen darin prominente Rollen ein.

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"Berlin 1931" von Felipe H. Cava und Raúl zeichnet sich durch die stilistische Wandlungsfähigkeit des Zeichner saus.

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Sie verleiht den Geschichten eine Stimmung zwischen Freiheit und Beklemmung, zwischen künstlerischer Experimentierfreudigkeit und gesellschaftlicher Abgründigkeit.

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Die Berliner Luft sei wie Amphetamin, so hieß es in den 1920er-Jahren. Diese Zeile aus der berühmten Schiffer-Spoliansky-Revue aus dem Jahr 1928 traf punktgenau das, was uns heute abermals und offensichtlich in den Bann zieht. Worauf gründet das gegenwärtige Interesse am Berlin der 1920er-Jahre? – Es manifestiert sich jedenfalls nicht allein in dem opulent angelegten TV-Epos Babylon Berlin der Regisseure Tom Tykwer, Achim von Borries und Henk Handloegten, das bisher in zwei Staffeln und 16 Folgen auf ARD und ORF gezeigt wurde und den Anspruch erhebt, "die politische Entwicklung der Weimarer Republik in allen Facetten und Gesellschaftsschichten" zu erzählen.

Die Vorlage dazu stammt übrigens aus der Feder des deutschen Autors Volker Kutscher, dessen erfolgreiche Romanserie um Kommissar Gereon Rath inzwischen auf sieben Bände angewachsen ist. Der erste Band, Der nasse Fisch, auf dem Babylon Berlin vorwiegend beruht, ist 2008 erschienen und spielt im Jahr 1929. Danach schreitet die Krimiserie Band für Band um ein Jahr voran. Im Hintergrund der Kriminalfälle zeichnet der Autor ein Bild der 1920er-Jahre mit vielen akribisch recherchierten historischen Details. Noch vor der Filmserie hat der Comiczeichner Arne Jysch 2017 Kutschers Der nasse Fisch als Comic umgesetzt. So erfolgreich, dass er 2018 in einer zweiten Auflage herausgekommen ist. Im Gegensatz zu der flirrenden, farbenprächtigen Verfilmung in Hochglanz ist dieser Comic allerdings in Schwarzweiß und grauer Kolorierung gehalten.

In den vergangenen zwei Jahren sind zudem einige Comics erschienen, die sich dieser Zeit widmen: Am aufsehenerregendsten ist zweifellos Jason Lutes' dritter Teil seiner Comictrilogie Berlin, für die er über zwanzig Jahre recherchiert und gezeichnet hat. Während Lutes ein vielstimmiges Panorama der letzten Jahre der Republik ausbreitet, konzentrieren sich die spanischen Autoren Felipe H. Cava und Raúl in Berlin 1931 auf eine fiktive Episode mit einer kommunistischen Untergrundgruppe, zu einem Zeitpunkt als das dumpfe Grölen der Nationalsozialisten bereits zum Alltagsgeräusch wurde.

Keinen Comic, sondern eine Art kurzgefasste Enzyklopädie mit Stichwörtern und Zeichnungen zu verschiedenen Themen und Persönlichkeiten zwischen Unterhaltungskultur, Wissenschaft und Politik stellt das Album Es wird Nacht im Berlin der Wilden Zwanziger von Illustrator Robert Nippoldt und Autor Boris Pofalla dar.

Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs

Das Interesse an der Weimarer Republik fußt – von den Gedenkfeiern abgesehen – im Wesentlichen auf drei Aspekten: Die sogenannten wilden Zwanzigerjahre vermitteln das "brodelnde Lebensgefühl einer Zeit, die von unserer Gegenwart gar nicht so weit entfernt ist", sagt Volker Kutscher selbst, darüber hinaus ist es die Auseinandersetzung mit den Umständen, die gegen Ende der ersten Demokratie in Deutschland zur nationalsozialistischen Machtergreifung geführt haben. Und schließlich ist ein dritter Aspekt noch von Bedeutung: die Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges.

Die Variation und Gewichtung dieser Blickwinkel sowie deren visuelle Umsetzungen können allerdings sehr unterschiedlich ausfallen. So spielt etwa Es wird Nacht im Berlin der Wilden Zwanziger auf das rauschende Nachtleben in den Clubs und Varietés dieser Zeit an. Der neue Tanz, die neue Musik, die neu entstehende Unterhaltungskultur und ihre Diven, Stars und Skandalnudeln nehmen darin prominente Rollen ein. Als "Elektropolis", als Metropole der Elektrizität, verwandelt Berlin die Nacht zum Tag. Den Helldunkelkontrasten huldigt der Zeichner Nippoldt in monochrom kolorierten Schwarzweißillustrationen, die sich durch den Band ziehen und weit in die Textteile hineindrängen, mit denen sich seine Zeichnungen zu Text-Bild-Collagen verbinden.

Mit seinen anschaulichen Grafiken, Tabellen und Collagen vermittelt der Band, der sich ohne falschen Anspruch als "Spaziergang" durch das Berlin der 1920er-Jahre versteht, einen raschen Überblick über Zeitphänomene und Persönlichkeiten, der über die Revuegirls weit hinausgeht. Autor Pofalla weist auf die Brüche hin, die Berlin entzweiten, in ein wohlhabendes im Westen und ein armes im Osten. Der enzyklopädische Bogen spannt sich von den Konsumpalästen und Vergnügungstempeln hin zu den Mietskasernen, von den Revuetheatern zu den Suppenküchen der Heilsarmee. Politische Zeittafeln wechseln mit Plakatcollagen des neuen Films, des literarischen Berlins oder wissenschaftlicher Pionierinnen. Da ist genauso die Rede von den Sechstagerennen im Sportpalast als "Verkörperung der atemlosen Moderne", bei denen Radprofis tatsächlich sechs Tage lang im Kreis fuhren, wie vom Straßenverkehr um den Ampelturm auf dem Potsdamer Platz. Da fallen bekannte und weniger bekannte Namen, von Magnus Hirschfeld, dem bahnbrechenden Sexualforscher, Josephine Baker, der schwarzen Charleston-Tänzerin, Lotte Reiniger, der Virtuosin des Silhouettenfilms, den Meisterdieben Sass oder dem legendären Kommissar Ernst Gennat, der etwa auch in Kutschers Romanen seine prominenten Auftritte hat.

Lutes' dreiteiliger Comicroman Berlin setzt im September 1928 ein und endet im Jänner 1933. Gerade einmal zehn Jahre liegt das Ende des Ersten Weltkriegs zurück. Berlin befindet sich auf dem Höhepunkt der Goldenen Zwanzigerjahre, die eigentlich nur knapp fünf Jahre umfassen. Der Tiefpunkt des Jahres 1923, als die Inflation "in galoppierende Schwindsucht verfallen ist" (E. M. Remarque), scheint überwunden. Seit 1924 geht es aufwärts, seitdem der amerikanische Dawes-Plan, eine Art Marschallplan, dem Land zu einem wirtschaftlichen Aufschwung verhilft. Lutes verknüpft beide Seiten – die Möglichkeiten und Freiheiten, die die Republik zu bieten hat, und die politischen Kämpfe um deren Überleben. Seine Absicht ist es, ein Bild der (untergehenden) Weimarer Republik zu zeichnen, ohne es durch das Wissen und den Blick von heute zu entstellen. In präzisen Szenarien spürt der Comic sozialen und politischen Ereignissen und Entwicklungen nach, die sich in diesen vier Jahren in unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären zutragen, zwischen Varietés und Jazzkellern, zwischen Hinterhöfen und Arbeiterküchen, in Klassenzimmern und Redaktionsstuben, schließlich auf den umkämpften Straßen und Plätzen. In klaren Schwarzweißzeichnungen mit tausend Fassaden, Fenstern und Gesichtern entwirft Lutes ein vielschichtiges Porträt der Stadt zwischen den Mai-Unruhen 1929 und dem letzten Tag der ersten deutschen Demokratie. Seismografisch nehmen die beiden Hauptfiguren, Marthe, die als Zeichenstudentin frisch nach Berlin kommt, und Kurt, der erfahrene Weltbühne-Journalist, die Stimmungen der Großstadt, das wilde Treiben und die Vielfalt in sich auf. In raffinierten Szenemontagen, die an Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz erinnern, lässt der Zeichner die unterschiedlichen Welten miteinander in Berührung kommen, sich gegenseitig beleuchten, ergänzen und konterkarieren. Zu diesen Welten gehören auch die Träume und Albträume, die die Verknüpfung der Gegenwart mit der nahen Vergangenheit des Ersten Weltkriegs sichtbar machen.

Während der Rausch fortwährt, häufen sich die Ereignisse, die an den Grundfesten der Republik gehörig rütteln. Die Ursachen für die vielen Toten bei den Maidemonstrationen werden offiziell nicht aufgeklärt, die Aufdeckung der illegalen Aufrüstung der deutschen Luftwaffe hat keine Bestrafung der Verantwortlichen zur Folge, stattdessen macht die Justiz den Weltbühne-Journalisten den Prozess. Wohin steuert diese Republik? Ein Außenminister, Gustav Stresemann, die Hoffnung vieler, die an die Republik glauben, stirbt, die Regierungen wechseln in rasendem Tempo, das politische Klima ist aufgeheizt, die Extremisten wittern ihre Chance. Die aufgrund des Börsenkrachs ausbleibenden Finanzmittel aus den USA tragen dazu bei, die Republik in eine nachhaltige wirtschaftliche Krise zu stürzen. "Dieses Tollhaus steht kurz vor dem Zusammenbruch! Spürt ihr das nicht?! Eine Katastrophe liegt in der Luft, aber wir leben munter in den Tag hinein wie kleine Kinder!" Mehr und mehr gestalten sich die letzten Monate der Demokratie zum "Vorabend einer Katastrophe", so der britischamerikanische Schriftsteller Christopher Isherwood, der durch seine Berlin Stories bekannt wurde.

Hommage an die Künstler

Während sich Lutes' Berlin-Comic durch eine Fülle von zeichnerischen Details hervorhebt, fällt Berlin 1931 von Felipe H. Cava und Raúl durch die stilistische Wandlungsfähigkeit des Zeichners ins Auge. Sie verleiht den Geschichten eine Stimmung zwischen Freiheit und Beklemmung, zwischen künstlerischer Experimentierfreudigkeit und gesellschaftlicher Abgründigkeit. In dem zentralen Spionagecomic, Reise nach Swinemünde, plant eine kommunistische Untergrundgruppe die Revolution. Das Verwirrspiel um den englischen Spion Hewitt, das der Geschichte zugrunde gelegt ist, korrespondiert mit der künstlerischen Lust am Experiment. Der wechselnde Bilder- und Farbenrausch ist eine persönliche Hommage des Zeichners Raúl an jene Künstler zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit wie Max Liebermann, Ernst Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff, Erich Heckel oder eben George Grosz, deren Kunstwerke von den Nazis als "entartete Kunst" diffamiert, beschlagnahmt oder verbrannt wurden. Eingeflochten in den Widerstand gegen den heraufziehenden Nationalsozialismus ist eine Liebesgeschichte. Die leidenschaftlichste Liebeserklärung ist aber der Comic selbst: an diese schillernde Zeit der Zwanzigerjahre, die sich alle Freiheiten herausgenommen hat und sich in diesen Comics immer noch wild gebärdet. (Martin Reiterer, 13.1.2019)