Ich freue mich immer über die vielen Postings zu meinen Texten hier im STANDARD-Forum. Ich versuche – sofern es meine Zeit erlaubt – sie auch alle zu lesen. Es geht hier ja um das Thema Schule, also um etwas, mit dem alle mal in ihrem Leben zu tun gehabt haben. Wenn es in der Oberstufe und bei der Matura um "schlechte" oder "schwache" Schüler geht, finden sich auf jeden Fall drei klassische Totschlagargumente in so manchen Kommentaren:

  • Es geht heute eh schon jeder Dodl aufs Gymnasium!
  • Es muss nicht jeder Depp Matura machen!
  • Wenn er’s nicht schafft, dann soll er arbeiten gehen!

Gut versus schlecht

In einem Posting zu einem meiner Blogbeiträge finde ich folgenden Satz:

Posting vom User "Leitenstein".
Screenshot: Standard.at

Diese Formulierung hat mich nachdenklich gemacht. Wahrscheinlich würde die große Mehrheit zustimmen. Klare Sache, die Guten schaffen die Schule alleine und die Schlechten werden zur Nachhilfe geschickt. Klare Sache, Nachhilfe ist immer defizitorientiert, da man sie nur dann braucht, wenn es "brennt".

So einfach ist das aber nicht. Das fängt schon einmal damit an, dass es zu schwierig ist, sowohl den "guten" und als auch den "schlechten" Schüler zu definieren. Die meisten stellen sich den "guten" Schüler wahrscheinlich als interessiert, wissbegierig, begabt, fleißig und gut erzogen vor, der darüber hinaus nichts vergisst und nahtlos bei neuem Stoff an das Vorhergehende anschließen kann. Ein Traum schlechthin! 

Der "gute" Schüler

Natürlich gibt es diese Schüler, sie sind aber nicht die große Mehrheit. Und ja: Auch solche idealtypischen Schüler gehen zur Nachhilfe, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Ich hatte eine Schülerin, die ab der Oberstufe regelmäßig einmal vor jeder Schularbeit zu mir kam, um mit mir konkrete Fragen durchzugehen, weil es im Unterricht dafür keinen Platz gab. Ein Luxusproblem, könnten manche meinen. Aber das tragisch-komische Element darin ist, dass es in den wenigen Mathestunden weder genügend Zeit für die Fragen der "schlechten" Schüler gibt, noch für jene der sogenannten Einser-Kandidaten. Die von mir unterstützte Schülerin tat sich wirklich leicht mit der Mathematik und besaß ein breites Fundament aus früheren Schulstufen. Ihr persönlicher, weil wohl ehrgeiziger, Fehler war, dass sie jeweils sämtliche Beispiele aus ihrem Mathebuch durchrechnen wollte. Und damit kam sie auf hohem Niveau in Kontakt mit mathematischen Aufgabenstellungen, wo ihr jemand "über die Stufe" helfen musste. In der Schule war dafür leider keine Zeit.

Wenn wir jetzt ein halbwegs klares Bild eines "guten" Schülers haben, dann können wir im nächsten Schritt versuchen, den "schlechten" Schüler zu skizzieren. Ist es so einfach, dass wir alle zuvor genannten positiven Eigenschaften nur ins Negative verkehren müssen? Ich glaube nein.

Der "schlechte" Schüler

Dazu passt meine zweite Anekdote. Ich hab vor einiger Zeit einen jungen Mann durch die Oberstufe begleitet. Ein cooler Typ, ein selbstständig denkender junger Mann. Aus schulischer Sicht aber sicher eine "Flaschn". Warum? Er fand die Lehrerin "deppert" und ihren Unterricht "fürn Hugo". Folglich arrangierte er sich mit mir und schrieb bis inklusive der Matura positive Noten in Mathematik. (Den Aspekt der Kosten für meinen Unterricht klammern wir hier einmal aus.) Worum es mir geht, ist, dass er für mich keinen "schlechten" Schüler dargestellt hat. Er war zielorientiert und effizient im Einsatz seiner Mittel (für manche ein "Owizahra"). Als Student würde man ihn wohl als zielstrebig beschreiben beziehungsweise auch keine Wertung vornehmen oder ihm gar eine Etikette umhängen.
 
Und damit haben wir nun aus meiner Sicht des Pudels Kern gefunden. Die Labels "gut" und "schlecht" beschreiben um vieles weniger die Schüler und Schülerinnen selbst, als den Grad ihrer Angepasstheit ans System Schule. Kritisches Hinterfragen der Unterrichtsinhalte oder Lehrmethoden ist zur heutigen Zeit genauso unerwünscht wie zu meiner eigenen Schulzeit. Man möge doch gefälligst dankbar sein, wenn das Füllhorn des Wissens über einem ausgeschüttet wird.

Die Unterscheidung zwischen "gutem" und "schlechtem" Schüler ist kaum möglich.
Foto: istockphoto.com/at/portfolio/Mlenny

Wer kommt zur Nachhilfe?

Kommen nun die "richtig schlechten" Schüler zur Nachhilfe? Die Antwort ist ganz einfach: Es kommt auf den sozio-ökonomischen Status der Eltern und ihrem eigenen Bildungshintergrund an. Soll heißen: Eltern mit akademischem Abschluss investieren tendenziell mehr Zeit und Geld, um ihre Sprösslinge wieder auf Spur zu bringen als Eltern mit einem nicht-akademischen Brotberuf. "Sie hat alle Chancen, aber wenn sie nicht tut, dann soll sie was lernen gehen!", so einmal ein betroffener Vater zu mir. Wenn dann der Nachhilfeunterricht nicht schleunigst einen Richtungswechsel bewirkt, wird der Geldhahn abgedreht.
 
Spätestens beim Übertritt aus einer NMS in Richtung Oberstufe wird der Förderbedarf so richtig sichtbar, den aber unser Schulsystem leider nicht bedient. Vielleicht wird damit kalkuliert, dass ein guter Teil der Erstklässler an der BHS eh nicht ins zweite Jahr aufsteigen wird. Es lässt sich ja mit den anfangs erwähnten Argumenten bekanntlich ganz gut leben. Oder? In jedem Fall sehe ich hier einen großen Förderbedarf gegeben, da der Übertritt auf eine Matura-führende Schule vor allem für nicht Gymnasiasten eine Herausforderung darstellt.

Fehlende Unterstützung

Was ist jetzt mit der großen Masse der Oberstufen Schüler und Schülerinnen: In wie weit sind sie "gut" beziehungsweise "schlecht"? Nur, weil sie zur Mathematik Nachhilfe gehen, sind sie "schlecht" in der Schule? Für einige meiner Kunden ist die wöchentliche Nachhilfestunde einfach eine Trainingseinheit für ein sicheres Fortkommen, da unsere Schulen nichts dergleichen anbietet. Und seit der Umstellung auf die Zentralmatura in der AHS bräuchte es einfach mehr Unterstützung und Training, damit vielleicht nicht jede Schularbeit ab der fünften Klasse wiederholt werden muss.
 

Posting des Users "MeinKommentar".
Screenshot: DerStandard.at

Mein persönliche Conclusio als Nachhilfelehrer: Ich schließe nicht falsch auf das System, da ich es jeden Tag zu Gesicht bekomme, mit allen positiven wie negativen Seiten. Und nein: Der Unterricht ist nicht per se schlecht. Das behaupte ich nicht. Was ganz offensichtlich fehlt, ist eine strukturell-verankerte Unterstützung während des Schuljahres. Diese Aufgabe übernehmen aktuell wir Nachhilfelehrer und sind damit – bewusst oder unbewusst – ein Teil des Schulsystems und zugleich ein Pfeiler, der es trägt.

Lernen aus Erfahrung

Ich möchte zum Ende einen Vorschlag formulieren, den ich einmal in den Postings zu meinem Blog gefunden habe. Warum werden nicht Unterrichtspraktikanten dazu verpflichtet, in einem gewissen Ausmaß an einem oder zwei Tagen pro Woche für Schülerfragen zur Verfügung zu stehen? Ob es dann Nachhilfe, Sprechstunde oder "open learning" heißt, ist sekundär. Wer Fragen hat, kann sie dort stellen. Und je nach Andrang hat er oder sie dann mehr oder weniger Zeit. Und ja: Es ist ein Angebot und ein Chance, keine Verpflichtung. Ich sehe – neben dem ehrlichen Angebot für die Schüler – vor allem die Chance auf Seiten der Junglehrer: Du kommst frisch spondiert von der Uni in eine Schule und wirst auf Kinder und junge Leute losgelassen. Du bist zu dem Zeitpunkt selbst noch jemand, der lernt, Erfahrungen macht und immer wieder dazulernen muss. Selbst ich kann nach 14 Jahren Nachhilfe rückblickend behaupten, dass ich neben dem Fachlichen vor allem in der Routine und den vielen Möglichkeiten, auf Kinder situationsbezogen einzugehen, einfach besser wurde. Ich denke daher, dass erst der direkte Kontakt und die Interaktion mit den jungen Leuten uns Lehrkräften ein Gefühlt gibt, was leicht, schwer oder überhaupt nicht verständlich ist. Auch die quasi-mühsamen Erfahrungen ("Warum versteht er es immer noch nicht???") lehren uns ein Einfühlvermögen und zeigen uns die Möglichkeiten und Herausforderungen unserer Schützlinge auf.
 
Kurzum: Vor super-intelligenten Kindern als Lehrer vorne an der Tafel stehen und den Stoff runterrattern ist keine Kunst! Und alle anderen, die keine kleinen Einsteins in der Klasse sitzen haben, bedienen sich hoffentlich nicht der drei Argumente vom Beginn meines Textes. (Rainer Saurugg, 18.1.2019)

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