Seit Jean-Claude Juncker den europhoben Donald Trump besänftigen konnte, werden ihm fast übernatürliche Fähigkeiten zugeschrieben, aus schier auswegloser Lage einen Weg zum konstruktiven Kompromiss zu finden.

Das war Ende Juli vergangenen Jahres. Der US-Präsident hatte zuvor beim Nato-Gipfel gegen die Partner gewütet. In Brüssel, Paris und Berlin stellte man sich darauf ein, dass Trump als Nächstes mit brutalen Strafzöllen gegen Europas Autoindustrie losschlagen werde, wie bei Stahl und Aluminium angekündigt. Der EU-Kommissionspräsident flog nach Washington. Nach einem dreieinhalbstündigen Gespräch, das einmal kurz vor dem Abbruch stand, lenkte der wütende US-Präsident ein.

Scheitern wahrscheinlich

Daran erinnerten die Hoffnungen, die am Wochenende aus den wichtigsten EU-Institutionen – Kommission und Rat – zur Abstimmung über den EU-Austrittsvertrag am Dienstag im britischen Unterhaus verbreitet wurden. "Lasst mich nur machen", hatte Juncker den EU-Partnern ausgerichtet. Auch wenn im Moment (fast) alles auf ein Scheitern des Brexit-Deals hindeutete, solle man nicht in Pessimismus verfallen.

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Juncker wirkt skeptisch, sieht aber genug Zeit für einen Durchbruch mit London.
Foto: AP Photo/Virginia Mayo

Tatsächlich hatte Juncker, der über jahrzehntelange Erfahrungen bei heiklen EU-Deals verfügt, immer wieder darauf verwiesen, dass bis zum Austrittstermin am 29. März noch relativ viel Zeit bleibe. In einem gemeinsamen Brief von ihm und Ratspräsident Donald Tusk versicherte er London am Montag, dass mit Großbritannien so rasch wie möglich ein neues Abkommen über engste Handelsbeziehungen abgeschlossen werden solle. Die "Notfallregelung" für Irland, die eine offene Grenze im Fall des Scheiterns eines Freihandelsvertrages sichern sollte, solle nie gebraucht werden.

Zwei Möglichkeiten

In Brüssel ist man auf alle möglichen Fälle für die nächsten Wochen vorbereitet – auch darauf, dass die Briten den EU-Austrittsantrag zurückziehen oder der Austrittstermin verschoben wird. Rechtlich ist vieles möglich, politisch alles. Für Dienstag gibt es zwei Möglichkeiten:

  • Ein rasches Ja zum Brexit-Deal Dieser Fall gilt als sehr unwahrscheinlich. Fände Mays Vorschlag aber eine Mehrheit im Unterhaus, kann der Brexit Ende März geordnet ablaufen, mit einer Übergangsfrist bis Ende 2020. Das EU-Parlament muss den 585 Seiten langen Austrittsvertrag ratifizieren. Die politische Erklärung zu den künftigen Beziehungen ist rechtlich nicht bindend. Ein Ja der EU-Abgeordneten ist sicher, die Abstimmung würde Mitte Februar stattfinden. Der EU-Austritt würde dann bei einem EU-Sondergipfel vermutlich im März besiegelt.
  • Ein Nein zu Mays EU-Austrittsvertrag Tritt dieser Fall ein, müssen die EU-Institutionen zunächst abwarten, was May zu tun gedenkt. Ein Rücktritt und Neuwahlen sind nicht auszuschließen. Wie Kanzler Sebastian Kurz dem STANDARD beim Dezembergipfel sagte, wolle sie aber jedenfalls im Amt bleiben. May strebe eine zweite Abstimmung im Unterhaus an. Dafür müsse sie zuvor von der EU etwas bekommen.
Grafik: Sebastian Kienzl, Stefan Binder

Angst vor Chaos-Brexit

Dann könnte der Juncker-Moment kommen: Zugeständnisse bzw. weitere "Klärungen" bezüglich der Irland-Frage, wie der Kommissionschef es nennt. Nicht auszuschließen sind auch finanzielle Zugeständnisse. Juncker und May würden sich rasch persönlich treffen, ein EU-Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs könnte folgen. Bis Mitte Februar werde der Druck dann sehr, sehr groß sein, einen ungeordneten Brexit im letzten Moment zu vermeiden. Bis dahin würden Dutzende Abgeordnete im Unterhaus es sich gut überlegen, ob sie ihr Land mit einem ungeordneten Brexit an die Wand fahren lassen – und einlenken. So lautet das Kalkül von May wie von Juncker.

Ginge auch das schief, wird es eng – für die Briten wie für die EU-Partner. Dann könnte man nur noch auf eine Verschiebung des EU-Austritts setzen mit der Folge, dass das Vereinigte Königreich bis auf weiteres EU-Mitglied mit allen Rechten und Pflichten bleibt. Vom Brexit-Chaos ginge es dann direkt ins EU-Wahlchaos Ende Mai. (Thomas Mayer aus Brüssel, 15.1.2019)