Seit der Veröffentlichung des Buches von Susanne Wiesinger, einer Wiener Lehrerin, die über den "Kulturkampf im Klassenzimmer" schreibt, führen wir eine (vermeintliche) Bildungsdebatte, die an Einseitigkeit kaum zu überbieten ist. Diese Eindimensionalität im Umgang mit derartigen Herausforderungen zieht sich durch sämtliche Bereiche – sei es die Wissenschaft, die öffentliche Aufarbeitung oder die politische Debatte. Dabei sollte uns klar sein, dass das Bedürfnis nach Eindeutigkeit, nach einfachen Lösungen für komplexe Phänomene, eine Chimäre ist, die zwar kurzfristige Befriedigung bringen kann, jedoch nur auf Kosten sinnvoller, langfristiger Lösungen.

Verbiegung wegen "religiöser Rücksichtnahme"

Neulich las ich die Nachrichten über die Schaffung einer neuen Ombudsststelle für Wertefragen und Kulturkonflikte im Bildungsministerium, die – wohlgemerkt ohne vorhergehende Ausschreibung – mit Wiesinger besetzt wurde. Was genau die Aufgaben einer solchen Stelle sein sollten, diese Frage konnte selbst Wiesinger bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des neuen Regierungsvorhabens nicht beantworten. Ein Paradebeispiel österreichischer Symbolpolitik und eines für die Einseitigkeit, mit denen Debatten hierzulande geführt werden. Es gibt keine einzige repräsentative Erhebung zu den Wertehaltungen von Schülern. Keine empirischen Daten und auch sonst nichts Vergleichbares. Lediglich den Erfahrungsbericht einer Lehrerin, die sich in ihrem Buch darauf bezieht, dass das auch andere Lehrer so sehen wie sie.

So schreibt sie, dass muslimische Schüler mit einem streng konservativen bis fundamentalistischen Gedankengut mittlerweile die absolute Mehrheit bilden. Wiesinger kritisiert dahingehend, dass man sich aus "religiöser Rücksichtnahme" verbiege. So behauptet sie weiters: "In Gesprächen versuchte man uns Lehrer zu begeistern, dass es doch eine gute Idee sei, wenn muslimische Schüler zu ihren Gebetszeiten die Klasse verlassen könnten. In einigen Schulen wurden diese Vorschläge bereits verwirklicht. Es gibt eigene Gebetsräume für muslimische Schüler."

Wer beruflich oder aus anderen Gründen an öffentlichen Schulen unterwegs ist, wird diese Behauptung nicht bestätigen können. Ich kenne keine einzige öffentliche Wiener Schule, die einen Gebetsraum hat. Selbst an islamischen Privatschulen sind die Gebetsräume oft Multifunktionsräume, die auch für Coachingeinheiten oder als Pausenraum verwendet werden. Zudem ist es vollkommen absurd zu behaupten, dass muslimische Schüler während der Unterrichtszeit einfach rausstürmen, um zu beten. 

Gravierende Einseitigkeit

Bezeichnend für die Debattenkultur in Österreich ist auch, dass Stimmen von Lehrkräften, die sich Wiesingers Schilderungen nicht anschließen konnten und sie für überzogen hielten, gekonnt ausgeblendet wurden. Besonders fatal aber ist das bei jenen Stimmen, die es betrifft: die der Jugendlichen. Dabei geht es doch angeblich um deren Wohlbefinden, um deren Zukunft – so heißt es zumindest. Sie sind es doch eigentlich, die eine Bühne bräuchten. Wir müssen uns fragen, wie dieser Bericht eine solche Welle auszulösen vermochte, nicht aber die tausenden von Diskriminierungserfahrungen, die über den Hashtag #metwo von Menschen mit Migrationshintergrund auf Social Media geteilt wurden und die zu einem großen Teil mit Lehrkräften zu tun hatten.

Zweifelsfrei, Wiesinger hat das durchaus klug gemacht. Sie porträtierte sich schon von Anfang an als eine Linke, der man nie zugehört habe, wodurch sie das aus rechten Kreisen stammende Narrativ über die "Tabuisierung von Problemen bei den Linken" speiste. Dadurch zwang sie quasi das gesamte politische Spektrum dazu zu reagieren. Das konnte man auch daran beobachten, dass auch die Roten das Vorhaben der Ombudsstelle lobten, ohne genau zu wissen, was diese Stelle jetzt genau übernehmen solle. Diese Macht aber, die Wiesinger hat, indem der Verlag eines Multimilliardärs ihr Buch publizierte, dieses Werkzeug der Diskursbestimmung, das haben Jugendliche nicht.

Buchautorin und Lehrerin Susanne Wiesinger.
Foto: www.corn.at/Heribert CORN

Fehlendes Vertrauen 

Dass die Ombudsstelle und somit Wiesinger eine Anlaufstelle für Lehrpersonal sein soll, dem kann ich Glauben schenken. Immerhin stilisiert sie sich und das Lehrerkollegium zu Opfern muslimischer Kinder: "Sobald die Muslime im Klassenzimmer in der Mehrzahl sind, geben sie den Ton an. Wir Lehrer können das akzeptieren oder einen Kampf beginnen, den wir nicht gewinnen können. Anpassung ist zum Reflex geworden."

Selbst die Schulleitungen wissen sich scheinbar nicht anders zu wehren, als den Lehrerinnen freizügige Kleidung zu verbieten. Dieses Verhalten einer Direktorin erklärt Wiesinger wie folgt: "[…] wurden aufgefordert, sich anders anzuziehen, was so viel heißt wie: Kleidet euch entsprechend den islamischen Gepflogenheiten. An diesem Vorfall sieht man schon, wie weit uns der Islam beeinflusst".

Wiesinger enthebt das gesamte Schulpersonal seiner Verantwortung, indem sie ein Katastrophenbild zeichnet, für das ausschließlich Jugendliche verantwortlich sind – muslimische Jugendliche wohlgemerkt, oder, darauf führt sie nämlich alles zurück, der Islam. Wie aber gedenkt das Bildungsministerium, soll diese Ombudsstelle eine Anlaufstelle für Eltern und Jugendliche werden? Hat sich denn irgendjemand die Mühe gemacht, dieses Buch zu lesen? – das war die Frage, die mir nicht aus dem Kopf ging.

Das Buch pauschalisiert

Also machte ich mich ein zweites Mal an die Lektüre des Buches. Ich redete mir ein, dass ich beim erstmaligen Lesen zu sehr mit einer anwaltschaftlichen Brille an den Text herangegangen bin. Aber auch diesmal war ich ob der geballten Pauschalisierungen, Diffamierungen und der Reproduktion von Rassismen schockiert.

So wird über muslimische Schüler beispielsweise folgendes gesagt: "Lehrer an Brennpunktschulen arbeiten fünf Tage die Woche fast ausschließlich mit Muslimen im Klassenzimmer. Der Großteil der Schüler spricht kaum Deutsch, will eigentlich nichts lernen und hat kaum Hobbys oder Interessen. Dafür werden diese Schüler aber sehr schnell aggressiv und wütend, sobald etwas nicht mit dem Islam im Einklang zu sein scheint. Das Wichtigste ist der Glaube. Ich kann es nicht anders sagen: Diese Kinder sind Gefangene ihrer Religion. Vielen fehlt der Freiraum, sich zu entfalten, einmal herauszufinden, was für sie ist und was nicht. Ohne religiösen Zwang. Ohne familiäre Bevormundung. Die Mehrheit der muslimischen Kinder spielt stundenlang Playstation. Andere Dinge, die die Persönlichkeit und Individualität der Kinder positiv prägen würden, finden nicht statt. Zu Hause ist alles streng eingeteilt und reguliert."

Muslimische Eltern kommen auch mehrfach vor, etwa in diesem Zusammenhang: "Manche Eltern stehen nicht einmal morgens mit ihren Kindern auf, um sie für die Schule fertig zu machen. Einige holen ihre Kinder auch nicht aus der Schule ab, wenn sie hohes Fieber haben. Der Job ist daran nicht schuld. Denn diese Eltern haben oft keinen. Selbst diese Kleinigkeiten sind nicht mehr selbstverständlich. Es fehlen die Vorbilder. Besonders in der Familie. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, das Leben von Mindestsicherung und Kindergeld schwierig. […]"

Diese Ohnmacht provoziert unter Lehrern manchmal Aussagen, die von purer Verzweiflung geprägt sind: Man müsste den Eltern die Kinder wegnehmen! Ich würde denen am liebsten die Kinderbeihilfe streichen und die Mindestsicherung kürzen! Wozu kriegen sie die Kinderbeihilfe, wenn sie sie nicht in ihre Kinder investieren, sondern stattdessen in ihre Reise nach Mekka und in ihren depperten BMW?!, heißt es im Buch.* Wie also gedenkt man sich, kann Wiesinger nach diesen Aussagen ein Vertrauensverhältnis zu Eltern und/oder Schülern aufbauen?

Religion als Identitätsmarker

Was mich seit der Lektüre des Buches aber trotzdem beschäftigt, ist diese geballte Ladung an Emotion, die der Leserschaft entgegenschlägt. Ich möchte Wiesinger nicht verteufeln, sie hat ein Recht auf diese Emotionen – unabhängig davon, wie verzerrt ihre Wahrnehmung sein mag. Es gibt sogar manche Aussagen im Buch hinsichtlich der (vermeintlichen) Religiosität von Jugendlichen, die ich unterstreichen würde. Ich komme bloß sowohl zu einem anderen Auslöser als auch zu einer anderen Konsequenz. Es ist auch mein Gefühl, dass manche muslimische Eltern strenger werden – vor allem jene, die aus niederen Bildungsschichten und schwachen sozioökonomischen Milieus kommen. Beide Faktoren, nämlich sozioökonomischer Hintergrund und Bildungsgrad der Eltern, zählen übrigens zu den stärksten Determinanten im Hinblick auf die Entwicklung und Einstellungen der Kinder.

Fragt man jedoch die Eltern, dann unterstreichen sie, dass sie das Gefühl haben, man würde ihnen etwas wegnehmen wollen – in diesem Fall ihre islamische Identität und ihr Recht auf Erziehungsfreiheit. 

Diese Angst kann ich ihnen nicht verübeln, betrachtet man die populistische Inszenierung der Regierung gerade, wenn es um "den Islam" geht. Manche dieser Eltern werden dann noch kompromissloser, noch konservativer – auch in der Erziehung und der Übermittlung islamischer Werte. Dass das ein falscher Zugang ist, steht außer Frage. Aber warum sollte es unter Muslime nicht auch reaktionäre Menschen geben? Aber für mich, als jemand der muslimisch sozialisiert wurde und die islamischen Communitys kennt, also auch mit den unterschiedlichsten Eltern spricht, eröffnet sich schlichtweg ein anderes Bild.

Viele muslimische Jugendliche haben ebenso das Gefühl, dass man versucht, ihnen etwas wegzunehmen und fühlen sich an die Wand gedrängt, benachteiligt. Das sagt sogar Wiesinger in ihrem Buch. Und so wie das bei Jugendlichen nun mal ist, reagieren sie mit Trotz, wenn sie das Gefühl haben, dass jemand ihnen etwas wegnehmen möchte. Das resultiert in unreflektierter Überidentifikation mit genau diesem Aspekt, den sie als bedroht erachten. So kommt es, dass sie die Religion plakativ vor sich hintragen, oft auch um zu provozieren. Aber auch, um sich als Reaktion auf diverse – als diskriminierend empfundene – Erfahrungen, abzugrenzen. Und so wie bei anderen Jugendlichen und Peer-Groups, die sich über ein Merkmal vereinen, kann es auch hier zu Gruppenbildung mit dem Zweck der Selbstaufwertung bei gleichzeitiger Abwertung anderer kommen.

Ein Schüler meinte erst neulich zu mir, für sie in der Klasse ist Religion nicht so ein Thema außer dann, wenn es die Lehrer zum Thema machen. Die Schüler wissen, wenn sie mal "haram" sagen, dann "zucken die Lehrer voll aus". Religion erfüllt hier vielmehr den Zweck eines Identitätsmarkers, der auch zur Abgrenzung dienen soll. Viel Inhalt, im Sinne religiöser Elemente und Überzeugungen, steckt meiner Erfahrung nach aber kaum dahinter. Das deckt sich auch mit den Erzählungen vieler Eltern, die unterstreichen, dass es immer schwieriger wird, den Islam zu vermitteln. Wen wundert das? Monotheistische Religionen und deren Gebote sind für Jugendliche in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung meistens sehr unattraktiv. Mit diesen Erfahrungen, Blickwinkeln und Beobachtungen im Kopf, ist es umso schwieriger, das Buch zu verdauen, weil es schlichtweg nur eine sehr verkürzte und verzerrte Sicht bietet.

Verpflichtende Supervision

Das ist aber nicht alles, das Buch hat für mich auch einen anderen, meine Erfahrung bestätigenden Aspekt. Diese Emotionen, die bei der Autorin durchscheinen, kenne ich. Ich beobachte sie schon seit Jahren im Zuge von Lehrerfortbildungen, die ich zum Thema Multikulturalität, Islam oder anderen Themen halte. Ich versuche hier den Raum immer auch für Erfahrungen zu öffnen. Oft ist das der schwierigste Part der Fortbildungen. Das Fachwissen kann ich meist gut übermitteln, viele Lehrer sind dann auch dankbar dafür, nun auch andere Erklärungen für ihre Beobachtungen zu haben. Erstaunlich ist für mich aber nicht nur die Tatsache, wie wenig Fachwissen rund um Multikulturalität, Identität(en), Religion(en), Interkulturelle Kompetenz et cetera da ist, sondern vor allem die aufgestaute Wut bei den Lehrern.

Eine Lehrerin wurde neulich besonders emotional, als wir zum Thema Kopftuch kamen. Sie würde es einfach nicht verstehen. Während sie ihre Gedanken erläuterte, griff sie sich mehrmals an den Kopf, manche stimmten ihr zu. So musste ich, obwohl ich nicht dafür ausgebildet bin, versuchen, diese Emotionen aufzufangen und in der Gruppe zu bearbeiten, ehe es mir möglich war, zur Fortbildung zurückzukehren.

Ich nehme aber weder ihr noch anderen Lehrern diese Emotionen übel, im Gegenteil. Ich kann sie zum Teil sogar nachvollziehen. Das Islambild in den Medien nach 9/11 ist – wie mittlerweile mehrere Studien beweisen – tendenziös und trägt zur Stigmatisierung von Muslimen bei. Die Politik bedient das Thema schon lange. Gleichzeitig sind die Regierungen vieler Länder, die sich gezielt als "islamisch" deklarieren und die breite mediale Präsenz genießen, etwa Saudi-Arabien und der Iran, nichts anderes als religiös legitimierte Diktaturen. Sie tun alles mit der Religion, aber nicht aus der Religion heraus, so würde es der Islamwissenschaftler Ahmad Milad Karimi bezeichnen. Aber das ist ein anderes Thema.

Lehrer brauchen Orte zur Reflexion

Wenn ich also da in Seminarräumen stehe und diese Wut, diese Emotionen spüre – wohlgemerkt viel häufiger als früher – dann denke ich mir manchmal, dass ihr doch eigentlich eine ordentliche Supervision bräuchtet, ehe ich mit euch zusammenarbeiten kann.

Das Problem hierbei ist, dass Lehrer keine Räume zur Reflexion haben. Das Lehrerzimmer ist ein Echoraum für alle möglichen Frust – und Kränkungserfahrungen mit den Schülern. Viele Lehrer – vor allem neue – erzählen mir, dass sie deshalb das Lehrerzimmer mittlerweile meiden. Und immer wieder muss ich mich fragen, warum haben Lehrer solche Räume zur professionellen Reflexion nicht? Mir fällt kein Job ein, in dem man derart intensiv mit Jugendlichen zusammenarbeitet, ohne verpflichtende Supervision zu haben. Menschen, die mit geflüchteten Jugendlichen arbeiten, Jugendarbeiter und viele andere Berufsgruppen haben solche Supervisionen regelmäßig. Warum also nicht auch Lehrer? Und warum hat man nicht schon viel früher auf den Fortbildungsbedarf, etwa zum Thema Multikulturalität reagiert? Warum ist das Lehramt-Curriculum, trotz der neuen Herausforderungen, in den letzten Jahren so gut wie unverändert geblieben?

Die Hauptverantwortung hierfür liegt beim Stadtschulrat und der Regierung. Sie müssen diese Strukturen schaffen, um Lehrer zu unterstützen. Allen voran aber müssen sie ausgebildetes Fachpersonal in den Schulen einsetzen, Schulpsychologen etwa und Jugendarbeiter. Dann würde man relativ rasch erkennen, dass meistens ganz andere Dinge hinter dem Aushängeschild "Religion" stecken.

Diskriminierung im Klassenzimmer

Trotz allem aber kann ich die Lehrer nicht aus der Verantwortung nehmen – vor allem deshalb nicht, weil sich neben diesen Beobachtungen eine Entwicklung zeigt, die mehr als nur besorgniserregend ist. Nämlich die Diskriminierung von Kindern an Schulen. Nein, ich spreche nicht von Mobbing unter Schülern, ich spreche von Lehrern, die Schüler ausgrenzen. Ich spreche von Aussagen wie "ihr Trottelkinder", von Lehrern, die den Kindern den Mittelfinger zeigen. Lehrer, die muslimische Kinder herauspicken und sie vor der Klasse bloßstellen, wenn sie falsche Antworten geben und Dinge sagen wie: "Ja, das könnt ihr nicht auswendig lernen, wie bei euch den Koran."

Mittlerweile gibt es (ehrenamtlich arbeitende) Initiativen, etwa die "Initiative für ein diskriminierungsfreies Bildungswesen", die das Ausmaß dieser Diskriminierungen zu erfassen versuchen, wissend, dass die Dunkelziffer viel höher ist. In den letzten Jahresberichten wurden die meisten Fälle in der Kategorie "Islamfeindlichkeit" verzeichnet. Was mir die Jugendlichen – etwa im Zuge von Fokusgruppen an den sogenannten Brennpunktschulen – erzählen, ist bestürzend. Das Interessante dabei ist, dass selbst die nicht-muslimischen Jugendlichen sich mit den muslimischen Kids solidarisieren und sagen, dass auch sie merken, dass manche Lehrer "ein Problem mit dem Islam" haben. An dieser Stelle sei gesagt, dass es in diesem Kontext vollkommen irrelevant ist, wie die Lehrer zum Islam stehen. Nicht egal ist aber, wie und in welcher Form sie diese Haltung in die Klasse tragen. Und wenn ich an die Lehrerfortbildungen denke, dann gehe ich davon aus, dass sie internalisierte Haltungen eben nicht ausblenden können. Österreich ist, was die Haltungen der Lehrkräfte und deren Auswirkungen betrifft, weit hinten nach. Auch hier gibt es keine systematischen Erhebungen. Deutschland ist da beispielsweise wesentlich weiter, wie sich schon anhand der Studienlage zu diesem Themenkomplex zeigt.

Erwartungseffekte mit Konsequenzen

Eine Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung und dem SVR - Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, hat 2017 eine Studie mit dem Titel "Vielfalt im Klassenzimmer – Wie Lehrkräfte gute Leistung fördern können" publiziert. Schon allein die Fragen, denen man sich in dieser Studie widmet, zeugen von der Multiperspektivität im Zugang. Es gilt in den Wissenschaften als unbestritten, dass Kinder mit Migrationshintergrund geringere Bildungschancen haben als jene ohne. Unterschiedliche empirische Daten belegen, dass sich diese Ungleichheiten in erster Linie auf Unterschiede in Bezug auf den sozioökonomischen Hintergrund und Sprachkenntnisse zurückführen lassen. Weit weniger Daten jedoch gibt es zur Rolle, die das Lehrpersonal bei der Entstehung der Bildungsungleichheit spielt. So fokussiert die Studie unter anderem auf sogenannte "Erwartungseffekte". Darunter versteht man die Erwartungen der Lehrkräfte für die zukünftigen Leistungen von Schülern und Schülerinnen und deren Auswirkungen. Je nachdem, wie diese Erwartungen ausgeprägt sind, fördern oder hemmen sie die schulischen Leistungen der Kinder.

Im Falle der Lehrerin Wiesinger ist eine solche Erwartungshaltung durchgehend zu beobachten. So schildert sie im Buch etwa wie folgt ihre Gedanken: "Ist doch eh egal, mit 18 heiratet die eh, ist doch völlig wurscht, lassen wir sie durch. Soll sie jetzt halt noch ein paar schöne und unbeschwerte Jahre haben. Warum sollen wir ihr das Leben schwer machen? Ihr Weg ist doch eh schon vorgezeichnet, und da muss sie auch nicht so viel Wissen haben. Für ihr Leben braucht sie keine Bildung."

An einer anderen Stelle beschreibt sie eine Intervention von ihr in der Klasse: "Wisst ihr was", sagte ich genervt, "verlasst euch nicht auf die Mindestsicherung oder auf andere soziale Unterstützungen. Was macht ihr, wenn es diese einmal nicht mehr gibt? Dann steht ihr ohne irgendwas da. Und was dann?"

Generell geht Wiesinger davon aus, dass Muslime wenig Interesse an Bildung haben – sowohl die Kinder als auch die Eltern. Dabei sind hohe Bildungsaspirationen, zum Beispiel in türkischstämmigen Familien, mehrfach wissenschaftlich belegt worden. 

Sprachdefizite führt sie etwa auf strenge Religiosität zurück: "Für mich ist diese Sprachlosigkeit die Folge einer starren, auf religiösen Drill ausgerichteten Erziehung ohne Witz und Ironie. [...] Die Verweigerung der deutschen Sprache hängt meines Erachtens auch sehr eng mit der Ablehnung unserer Kultur zusammen."

Der Erwartungseffekt hinsichtlich der zugeschriebenen geringen Bildungsaffinität offenbart sich insbesondere in Aussagen gegenüber den Schülern, wo ihnen beispielsweise die Aussicht auf eine AHS-Matura oder höhere akademische Bildung abgesprochen wird.

Unweigerlich muss ich bei diesen Erwartungshaltungen gegenüber muslimischen Schülern an Robert K. Mertons "selbsterfüllende Prophezeiung" denken. Genau das ist es, was ich in den Lehrerfortbildungen spüre – eine schlummernde, ablehnende Haltung gegenüber Islam und Muslime, die sich in Stereotypen manifestiert und (bewusst oder unbewusst) entlädt.

Im Wissen über diese Erwartungshaltungen und deren Auswirkungen wird in der erwähnten Studie eben genau das fokussiert. Neben den interessanten Ergebnissen der Auswertung von religionspolitischen Aussagen, wo etwa 83 Prozent finden, man solle Religionsunterricht anbieten, während lediglich 66 Prozent finden, dass man auch islamischen Religionsunterricht anbieten soll, liefern auch die Fragen hinsichtlich der Einstellung gegenüber muslimischen Kindern interessante Ergebnisse.

So geben etwa 10% aller Lehrkräfte an, dass Muslime das Sozialsystem belasten. 71% würden ihre Kinder auf eine Schule mit vielen Muslimen schicken. 17% aller Lehrkräfte finden, dass Muslime aggressiver sind und 61% finden, dass Muslime genauso bildungsorientiert sind.

Unser Nachbarland ist aber nicht nur in diesem Bereich weiter als wir. Schon 2014 haben Zick/Klein festgestellt, dass Islamfeindlichkeit unter Jugendlichen die am stärksten ausgeprägten Ideologie der Ungleichwertigkeit darstellen. 2018 wurde eine Studie der Mercator Stiftung veröffentlicht, die Islamfeindlichkeit bei Jugendlichen misst. Die Studie kam zu dem Schluss, dass das Islambild bei Jugendlichen (insgesamt wurden 800 befragt) vor allem durch öffentlich diskutierte Themen wie etwa "Unterdrückung der muslimischen Frau", "Parallelgesellschaft", "Islamismus" sowie "Bedrohung von Identität" geprägt wird. Solche Studien, die zu einem ganzheitlichen Bild beitragen würden, wurden in Österreich nicht durchgeführt.

Dass die Diskriminierungserfahrungen, ja gar tätlichen Übergriffe auf Muslime am Ansteigen sind, das sind Fakten, die mittlerweile mehrfach belegt sind – siehe etwa die jüngsten Berichte von ZARA oder der "Dokumentations- und Beratungsstelle Islamfeindlichkeit & antimuslimischer Rassismus". Wer Freunde in der Jugendarbeit hat, kann sich auch von ihnen erzählen lassen, was die Jugendlichen beschäftigt.

Zusammenfassung: Um wen es wirklich geht

Denn zwischen all diesen Diskussionen, all den Reibungsflächen und einseitigen Debatten, sind es die Jugendlichen, die am meisten darunter leiden, nicht wir, nicht die Lehrkräfte. Und genau das ist es, was den Zündstoff birgt. Wir fokussieren Ergebnisse, Konsequenzen, Symptome, nicht aber die Ursachen und Auslöser. Das verzerrte Bild, das dadurch entsteht, wirkt sich in vielerlei Hinsicht auf die Jugendlichen aus. Im Grunde schieben wir Jugendliche von uns weg, statt sie teilhaben zu lassen.

Damit verbunden ist übrigens auch die Einseitigkeit im Hinblick auf die Integrationsforschung in Österreich. Obwohl es schon etliche Studien im englischsprachigen Raum (und auch in Deutschland) zur Ebene der "emotionalen Integration" und deren Wichtigkeit gibt, wird diese weder im medialen, noch im öffentlich/politischen, noch im wissenschaftlichen Diskurs diskutiert.

Was wir also brauchen ist einen multiperspektivischen Blick in dieser Debatte. Wir müssen uns den Herausforderungen in den Schulen annehmen und ja, dazu gehören natürlich auch Abwertungskonstruktionen unter Jugendlichen – wie auch immer sie argumentiert werden und gegen wen auch immer sie gerichtet sind. Das funktioniert aber nicht, indem wir Jugendliche diabolisieren und sie zu Gefangenen familiärer Strukturen machen, sondern indem wir ihnen auf Augenhöhe begegnen und sie zum Hinterfragen und Reflektieren anregen.

Dabei ist es unerlässlich, zusätzliches Unterstützungspersonal (Jugend- und Sozialarbeiter, Psycholog) an Schulen einzustellen. Einen multiperspektivischen Blick anzulegen bedeutet aber auch die Rolle der Lehrer zu reflektieren, ihre Positionierung im Bildungsweg der Jugendlichen. Es bedeutet, ihnen Räume zu geben, wo sie mit professioneller Betreuung über ihre Erfahrungen, Gedanken und Emotionen reden können. Aber es bedeutet auch, Mittel zu finden, mit denen man der Willkür der Lehrer gegenüber einigen Schülergruppen – die oft durch nicht reflektierte Stereotypen entsteht – entgegenwirken kann. Nur zu oft haben mir Eltern und Schüler erzählt, dass sie Angst davor hätten, rassistische oder benachteiligende Handlungen der Lehrkräfte zu melden, aus Angst vor deren Reaktion und schlechterer Notengebung. Last but not least bedeutet ein solcher Blick auch, dass in Österreich mehr in differenzierte Forschung zu den Themenkomplexen Schule – Migration – Multikulturalität Abwertungskonstruktionen investiert wird. Empirische Daten bilden die Grundvoraussetzung, um die notwendige Sachlichkeit in dieser und ähnlichen Debatten anzuheben. Für all das bräuchte es aber selbstverständlich den politischen Willen. (Rami Ali, 24.1.2019)

*Das Ausmaß solcher und ähnlicher, verunglimpfenden Aussagen und Haltungen ist sehr groß. Für ein gesamtes Bild empfehle ich trotzdem die Lektüre des Buches – auch, um sich nicht auf mein Urteil verlassen zu müssen.

Literaturhinweise

  • Susanne Wiesinger: "Kulturkampf im Klassenzimmer: Wie der Islam die Schulen verändert. Bericht einer Lehrerin". Edition QVV, Wien 2018.

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