Juergen Teller sollte eigentlich Bogenmacher werden. Als er eine Holzstauballergie entwickelte, musste er seine Lehre abrupt beenden. Mit seinem Cousin, einem enthusiastischen Hobbyfotografen, ging er auf "Luftwechselurlaub" und entdeckte die Fotografie. Er schaute durch die Linse und dachte: "Uh! Ich werd' Fotograf!" Heute ist Juergen Teller einer der bedeutendsten Fotografen der Welt. Wir erreichen ihn telefonisch in seinem Zuhause in London, wo er noch ein Backgammon-Spiel beendet, bevor er unsere Fragen beantwortet.

Juergen Teller: "Ich wollte mal schauen, wie das ist, von mir fotografiert zu werden."
Foto: Juergen Teller & Erwin Wurm

STANDARD: Wie sehr werden Sie von den verschiedenen Umgebungen, in denen Sie fotografieren, beeinflusst, und wonach suchen Sie diese aus?

Teller: Wenn ich Porträts fotografiere, dann am liebsten in der Umgebung, in der die jeweiligen Menschen leben oder arbeiten.

STANDARD: Den Modedesigner Nicolas Ghesquière haben Sie aber auf einem Friedhof, Kim Kardashian auf einem Acker fotografiert.

Teller: Das stimmt. Ghesquière wollte ich mit einem Pariser Wahrzeichen fotografieren. Das wurde dann der Friedhof Père Lachaise.

STANDARD: Und wie kam Kim Kardashian auf einen Acker?

Teller: Kayne West wollte unbedingt von mir fotografiert werden, ich habe aber immer wieder abgesagt. Dann kam ein Auftrag der "New York Times", ein Cover mit ihm zu machen, und ich wurde neugierig. Ich kannte den gar nicht wirklich. Ich wusste nur, dass er immer in die Modebranche wollte, aber auf eine ganz komische Art. Ich hab ihn schlussendlich fotografiert, und dann sind wir auf seine Frau zu sprechen gekommen. Er fragte, ob ich sie nicht auch fotografieren könnte.

STANDARD: Das hat Sie interessiert?

Teller: Die schaut ja völlig irre aus! Wir trafen einander in Paris, und ich wollte sie bei ihr im Hotel oder in deren Wohnung fotografieren. Das wollten sie aber nicht, und plötzlich wurde das zu einer riesigen Produktion: Kanye West wollte sie stylen, hatte irre viele Klamotten angekarrt, Make-up- und Haarstylisten und so weiter. Dabei wollte ich ja nur ein Porträt von Kim Kardashian machen. So eine Riesenproduktion funktioniert in Paris nicht, mit den ganzen Paparazzi, also fand ich auf die Schnelle ein Schloss, eine Stunde außerhalb der Stadt. Dort hatten wir Ruhe.

STANDARD: Ein Schloss war der richtige Platz, um Kim Kardashian zu fotografieren?

Teller: Nein. Das hab ich dann auch schnell gemerkt. Das Château war viel zu schön für die. Ich bin ein bisschen rumgelaufen und habe dann diese Äcker und Hügel gefunden und hab mir überlegt: "Der Arsch is es ja, auf den's ankommt – wie bring ich den am besten zur Geltung?" Ich dachte mir: "Na kletter da mal hoch mit deinen hohen Schuhen und dem Ding." Und das hat sie dann auch gemacht. Menschenskind, was die Leute alles machen ...!

2015 ließ Juergen Teller Kim Kardashian in einem Acker des Château d'Ambleville bei Paris herumklettern. Dabei ist dieses Foto entstanden.
Foto: Juergen Teller

STANDARD: Mochte sie das Foto von sich selbst?

Teller: Ja ... die fanden das positiv.

STANDARD: Mit dem Fotomodell Kristen McMenamy fotografierten Sie in dem Museo Casa Mollino in Turin eine Serie von sehr intimen und sehr freien Aktbildern. Wo wurden die Grenzen in dieser Zusammenarbeit gezogen?

Teller: Bei uns gibt es eine sehr natürliche Grenze. Ich bin da nicht der, der sagt: "Mach mal deine Beine breit und leg dich da hin." Das bin ich nicht. Kristen und ich arbeiten seit über zwanzig Jahren miteinander. Da gibt es viel Vertrauen.

STANDARD: Ähnlich wie bei Charlotte Rampling?

Teller: Genau. Wir schauen die Bilder nach jedem Shooting gemeinsam an.

STANDARD: Warum gibt es von Ihnen so viele Selbstporträts?

Teller: Selbstporträts gab es schon immer. Aber damals, als ich anfing, hat kein Modefotograf welche gemacht. Ich wollte mal schauen, wie das ist, von mir fotografiert zu werden. Ich wollte auch für meine Porträts etwas lernen – Posieren und so. Als ich Charlotte Rampling diese Bilder von mir zeigte, hatten wir einen ganz anderen Ausgangspunkt für unsere gemeinsame Arbeit.

STANDARD: Wie wichtig sind Details?

Teller: Das wurde mir so richtig bewusst, als ich bei den Schauen von Helmut Lang backstage fotografierte: Da kam es auf die Details an: Diese moderne, abstrakte Mode, die neuen Materialien und die Farben, die tolle Musik von Peter Kruder, die gute Atmosphäre, die Supermodels, die neuen Models, richtige Frauen wie Elfie Semotan ... Damals hat – außer Roxanne Lowit – niemand backstage fotografiert. Das war so abstrakt und so korrekt und so gut. Es ergab eine ziemlich gute Kombination von Helmut Langs Arbeit und meinen Fotografien.

Mit der Arbeit "Self Portrait for Business Fashion" von 2015 zeigt Teller augenzwinkernd mit Retuschehinweisen, wie heute Fotos produziert werden.
Foto: Juergen Teller

STANDARD: Sie haben in München an der Bayerischen Staatslehranstalt für Photographie studiert, wollten dann nicht zur Bundeswehr und anstatt dessen lieber ein bisschen herumkommen.

Teller: Ich habe mich ins Auto gesetzt und bin nach England gefahren. Als ich in London ankam, hatte ich kein Geld und schlief manchmal im Auto. Ich konnte auch kein Englisch und kannte niemanden.

STANDARD: Wie lief es mit dem Fotografieren?

Teller: In den Anfangszeiten habe ich erst mal gar nichts fotografiert. Ich musste vorher mal Englisch lernen. Ich hatte von der Berufsgenossenschaft eine Linhof-Großbildkamera und eine Hasselblad-Ausrüstung mit drei Objektiven bekommen. Die verkaufte ich erst mal. Davon konnte ich ein halbes Jahr leben. Meine eigene kleine Kamera habe ich behalten.

STANDARD: Wie ging es weiter?

Teller: Wenn du jung bist, bist du halt naiv und machst alles Mögliche. Außerdem hatte ich keine Lust, als Verlierer nach Deutschland zurückzugehen. Ich musste das irgendwie hinkriegen. Ich hatte ja diesen Drang, Fotos zu machen, und ich wusste, dass ich das ganz gut mache. Ich dachte, irgendwie geht das schon. Und es war toll, dass ich die Möglichkeit bekam, Plattencovers zu fotografieren. Das waren Leute wie Simply Red, Sinnead O'Conner oder Elton John. So fing das an. Ich habe übrigens auch das letzte Plattencover von Falco fotografiert.

STANDARD: Tatsächlich? In Wien?

Teller: Yes! Durch den Österreicher Lo Breier (zur damaligen Zeit Art-Direktor des Magazins "Tempo", Anm. d. Red.) bin ich zu dem Job gekommen. Damals habe ich noch mit Polaroidfilm experimentiert. Ich muss leider sagen, dass ich damals für Falco zu jung und er schon zu fertig war. Er sah schon ziemlich aufgeschwollen aus.

STANDARD: Was hat sich mit den Jahren verändert?

Teller: Du hast weniger Zeit und musst viel mehr liefern. Und alles soll kommerzieller sein. Alles "politically correct". Früher war es ein Gefühl, das du ausdrücken konntest. Heutzutage müssen zusätzlich zur Kampagne, Unmengen an Produkten fotografiert werden. Damit man das im Internet und auf Instagram verscherbeln kann.

Für das Bild "Paradise II, At Moments I Felt like Being in a Strange Dream" ist Juergen Teller 2017 durch die unwegsame Wildnis gewandert.
Foto: Juergen Teller

STANDARD: Eines Ihrer Projekte war es, das ehemalige Reichsparteitagsgelände in Nürnberg zu dokumentieren. Wie kam es dazu?

Teller: Ich stamme aus Bubenreuth in der Nähe von Erlangen und bin in den Ferien immer zu meiner Oma, die in der Nähe dieses Areals lebte. Da gab es eine Grünfläche mit Teichen. Um dorthin zu kommen, musste man durchs ehemalige Reichsparteitagsgelände. Und das war ja das Böse. Man hat gesagt: "Geh da nicht hin!" Natürlich geht man dann besonders gerne hin. Wir haben dort Fußball gespielt und haben heimlich herumgeschaut. Da waren Jugendliche, die rumgeknutscht oder Bier getrunken haben. Für uns als Kinder war das abenteuerlich. Diese Erinnerung hat sich stark eingeprägt, und ich wollte dort immer irgendwas machen, es ist mir aber nichts eingefallen.

Ich wusste einfach nicht, was. Einmal besuchte ich meine Tante und sagte: "Können wir dort nicht einmal vorbeifahren und ein bisschen herumspazieren?" Und das machten wir. Ich fotografierte die Blumen und Kräuter und Pflanzen. Die Natur, die aus diesem schlechten Platz herauswächst, faszinierte mich – schönste, zarte Blumen. Meine Idee war, das Gelände über die vier Jahreszeiten zu fotografieren. Und so kam es, dass meine Mutter anrief und sagte: "Morgen wird's schneien" oder "Heute hat's geschneit". Da bin ich schnell nach Nürnberg geflogen und dann auf dem Boden rumgekrochen, um die Pflanzen im Schnee zu fotografieren. Teilweise schauen die Bilder wie abstrakte japanische Gemälde aus. Damals hatte ich noch mehr Zeit.

STANDARD: Wann war das?

Teller: Vor dreizehn, vierzehn Jahren.

STANDARD: Zu der Zeit, in der Sie auch ein paar Monate in Japan lebten?

Teller: Ich habe nie in Japan gelebt, war aber an Weihnachten zum Urlaub dort, als mein Sohn noch ganz klein war. Alles war irgendwie langsamer, kommt mir vor.

STANDARD: Es fällt auf, dass Natur von Anfang an in Ihren Arbeiten sehr präsent ist.

Teller: Natur ist mir sehr wichtig. Weil ich so ausgerissen bin von daheim, weil ich schnell aufgebrochen bin. Durch die Natur habe ich eine Verbindung mit meinem Zuhause und mit meiner Familie. Ich gehe auch immer gerne in den Wald, dort, wo ich aufgewachsen bin.

STANDARD: In diesem Wald haben Sie auch viel fotografiert. Was bedeutete Ihnen der Wald, als Sie dort aufwuchsen?

Teller: Na, das war so ein erweitertes Spielzimmer. Da hab ich meine Freunde getroffen, und wir sind rumgelatscht und haben geredet und Blödsinn gemacht. Ich hab dort meine Ruhe gehabt. Wenn es dunkel geworden ist, war der Wald ganz schön unheimlich. Das hat mich angezogen, ich mochte das ganz gern.

STANDARD: Sie wohnten gleich am Waldrand. Die ganze Familie in einem Haus.

Teller: Es war ziemlich beengt bei uns zu Hause, psychisch und physisch. Ich hatte so ein winziges Zimmer unterm Dach. Neben mir wohnte mein Cousin, der hatte ein größeres Zimmer. Jeder ist so irgendwie auf dem anderen gehockt. Und alle haben in der Fabrik meines Großvaters – zwei Hügel unterhalb unseres Hauses – gearbeitet. Es gab dort einen Swimmingpool, und das war im Sommer die Oase. Da war es so windstill und so heiß, und die Zeit stand still, und du glaubtest, es ist jetzt für immer Sommer und die Schule fängt nie mehr an.

STANDARD: Ihr Cousin sagte einmal über Sie: Wenn Juergen eine Grenze sieht, muss er mal auf alle Fälle einfach drüberlatschen.

Teller: (Lacht) Ehhhh! Ich sehe Grenzen wohl anders als er oder andere Leute. Vielleicht ist das eine Eigenschaft, die ich von meinem Vater habe. Bei der Fotografie Grenzen zu überschreiten funktioniert nur, wenn der andere mitspielt. Ich treibe es nie so weit, dass es dem, den ich fotografiere, unangenehm ist. (Cordula Reyer, RONDO, 18.1.2019)

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