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Frankreichs Präsident Emmanuel Macron traf sich zum Auftakt der "großen nationalen Debatte" mit 600 Bürgermeistern in der Normandie. Vertreter der Gelbwesten mussten großteils draußen bleiben.

Foto: Reuters / Wojazer

So muss es am Vorabend der großen Revolution von 1789 gewesen sein. Der 4200-Einwohner-Ort Brionne ist bereits zur Ruhe gekommen, keine Katze schleicht über die nassschwarzen Gehsteige. Nur aus einem zusammengeschusterten Wellblechverschlag am Rande eines Kreisverkehrs dringen an diesem Montagabend noch Stimmen. "Wenn wir mit den Fahrzeugen nicht ins Zentrum von Bourgtheroulde vordringen, nehmen wir den Fußweg über den Wald", erklärt ein Mann mit gelber Warnweste. "Bleibt in der Gruppe, vermeidet die engen Gassen, wenn ihr auf Gendarmen stößt. Und damit es klar ist: Keine Messer, keine Waffen!"

Die Runde nickt. Es sind stämmige Männer, gepiercte Frauen, die sich in der Bretterhütte zwängen, ihr kalter Atem mischt sich im Schummerlicht mit Zigarettenrauch. Francis, wie der Wortführer mit dem graumelierten Bart heißt, fährt fort, er sei nicht sicher, ob einige Gilets jaunes bis zum Präsidenten vordringen würden, um ihre Forderungen anzubringen. Das Wort "Präsident" bewirkt sofort Zwischenrufe, unter denen wüste Schimpfwörter sind.

"Reingelegt hat er uns!", ruft ein stämmiger, junger Mann mit Reebok-Mütze. Und auch wenn er nicht ausführt, inwiefern, stimmen ihm alle zu. "Immer mit der Ruhe", beschwichtigt Francis die Jüngeren. "Ich schlage vor, wir erwähnen die Senkung der Benzinsteuer und der Sozialsteuer CSG." Da ruft einer dazwischen: "Die CSG-Erhöhung, das war ein Betrug. Macron, démission! Wir wollen eine neue Republik!"

Forderung nach Neuwahlen

Francis beruhigt erneut: "Wir verlangen Sofortmaßnahmen. Eine neue Verfassung würde zu lange dauern, das wissen wir seit dem Großen Charles." Gemeint ist Charles de Gaulle, der Gründer der Fünften Republik. Die Runde einigt sich darauf, Neuwahlen zu verlangen, falls die Gelbwesten zur Audienz beim Präsidenten vorgelassen werden sollten.

Werden sie aber nicht. Am Dienstagmorgen sperren starke Polizeikräfte sämtliche Zufahrten nach Bourgtheroulde, der Nachbargemeinde von Brionne, wo Emmanuel Macron den Startschuss für seinen "grand débat" gibt. 600 Bürgermeister, Lokal- und Regionalpolitiker, alle mit blau-weiß-roten Schärpen, lauschen den Ausführungen des Präsidenten. Aus den Höhen des Élysée-Palastes in das Nest Bourgtheroulde heruntergestiegen, verspricht er eine Debatte über den "sozialen Bruch", der Frankreich durchziehe. Dabei solle es "keine Tabus" geben, meint er zu höflichem Applaus. Es folgen mehrere Politikerreden und weiterer Applaus.

Gelbwesten müssen draußen bleiben

Allein, die Gilets jaunes bleiben ausgeschlossen. Eine Fünferdelegation – mit Francis – wird kurz von den zwei Ministern empfangen, die auf Macrons Geheiß die Volksdebatte leiten sollen. Entsprechend wütend sind die paar Dutzend Gelbwesten, die es nach Bourgtheroulde geschafft haben. "Wir mussten über Schleichwege und Stacheldrahtverhaue herkommen, um den Präsidenten zu sehen", meint Ingrid, eine Gilet jaune. "Welch Unterschied zu früher: Das Dorf hätte sich beflaggt und wäre Spalier gestanden, wenn de Gaulle oder Mitterrand gekommen wären!"

Im Bistro ärgern sich die wenigen Gelbwesten am Tresen, dass der Präsident wieder einmal das Volk vergessen und nur die politische Kaste geladen habe. Einer schimpft verärgert: "Der wird sich über uns noch wundern." Das trifft sich gut hier im Bistro L’Imprévu – auf Deutsch etwa: Das Unvorhergesehene.

Draußen haben einzelne Geschäftsinhaber ihre Schaufenster zugenagelt, um Schäden nach möglichen Krawallen zuvorzukommen. Bei der Fleischerei hat jemand auf die Holzbretter gesprayt: "Schluss mit der Ära der Könige". In der Apotheke, die immerhin geöffnet hat, meint Besitzerin Véronique, hier in Bourtheroulde schüttelten sogar die ehemaligen Macron-Wähler nur noch den Kopf. "Was tut er jetzt, da diese chaotische Bewegung am Abflauen war? Er setzt eine Bürgerdebatte an, die die Gelbwesten nur neu stimulieren muss. Außerdem wird sie in neue Milliardenausgaben münden. Da sind neue Steuererhöhungen programmiert."

Friseurbesuch zu teuer

Beim Friseur wartet Sandrine vergeblich auf Kundschaft. Also erzählt sie, wie sie seit zwanzig Jahren hier arbeite – vor kurzem aber ihre letzte Angestellte entlassen musste. "Die Leute haben kein Geld mehr fürs Haareschneiden. Für viele ist das heute ein Luxus geworden. Ich kenne welche, die gehen nicht mehr ins Restaurant, fahren nicht mehr in die Ferien", meint die Frau, die zur Abwehr eindringender Gelbwesten ein Haarspray bereitgestellt hat.

Einer der geladenen Lokalpolitiker, der kommunistische Bürgermeister von Brionne, Valéry Beuriot, bestätigt, dass viele Einwohner der Normandie in den letzten zwanzig Jahren richtiggehend verarmt seien. Der Staat ziehe sich zurück: Im nahen Ort Bernay stehe die Frauenklinik vor der Schließung. Das decke sich mit dem Befund des neuen Houellebecq-Romans ("Serotonin"), der die soziale Misere der Normandie anhand einer – tödlich ausgegangenen – Bauernrevolte beschreibt.

Die nationale Debatte hält Beuriot für eine "Maskerade". Wie er der anhaltenden Gelbwestenkrise im Land beikommen will, weiß er aber auch nicht. Das weiß in Bourgtheroulde an diesem kalten Dienstag niemand. Sicher ist nur eins: Während die Politiker im Saal hehre Reden halten, steht das Häuflein Gelbwesten in der Kälte und schlottert fürchterlich. (Stefan Brändle aus Bourgtheroulde, 15.1.2019)