Von Kopf bis Fuß: MS kann sämtliche Teile des Körpers treffen. Es kommt darauf an, welche Nervenleitungen geschädigt sind.

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Es war Ende März 2016, erinnert sich die Neurologin Siegrid Fuchs von der Med-Uni Graz. Pausenlos klingelte das Telefon, hunderte Patienten fragten an, wann sie das neue Wundermittel gegen Multiple Sklerose erhalten können.

Was war geschehen? Forscher der Med-Uni Wien hatten ihre Studienergebnisse zu dem synthetischen Pflanzenpeptid Zyklotid veröffentlicht. In Mausversuchen konnten die Wissenschafter beobachten, dass das Auftreten von MS-Symptomen durch die orale Verabreichung von Zyklotiden erheblich reduziert wird. Der Wirkstoff, der in Kaffee-, Kürbis- und Nachtschattengewächsen enthalten ist, unterdrückte den Botenstoff Interleukin-2 und damit die Teilung der T-Zellen, die eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung von MS spielen. Die Zeitspanne zwischen den Schüben könne so verlängert oder möglicherweise sogar ein Ausbruch der Erkrankung verhindert werden, lautete das Fazit der Studienautoren.

Maus ist nicht Mensch

Die Med-Uni Wien meldete zusammen mit dem Universitätsklinikum Freiburg für ihre Entdeckung Patente in mehreren Ländern an. Damit wurde der Eindruck erweckt, dass eine neue, erfolgversprechende Therapie für MS in Reichweite sei. Zahlreiche Medien berichteten über die potenzielle Wunderwaffe, doch in der Euphorie wurde eines vergessen: Maus ist nicht gleich Mensch. Siegrid Fuchs nennt das einen "klassischen Fall von fehlgeleiteter Information, die zu früh in die Medien gekommen ist."

Ähnlich sieht das Jörg Kraus, Präsident der Österreichischen Multiple-Sklerose-Gesellschaft. "Von Tierstudien auf den Menschen zu schließen ist nicht möglich. Auf diesem Niveau gibt es weltweit etwa 5.000 Substanzen, die erforscht werden. Davon schaffen es in 20 bis 30 Jahren vielleicht zwei, drei Kandidaten, die das Potenzial zum Medikament haben."

Breites Therapieangebot

In einem Punkt sind sich MS-Experten aber einig: Die Erforschung der Erkrankung ist eine medizinische Erfolgsgeschichte. In kaum einem Bereich konnten in den vergangenen 25 Jahren so große Fortschritte erzielt werden wie in der Behandlung der MS. Die Wissenschaft versteht das Krankheitsbild immer besser, das Angebot wirksamer Therapien wird immer breiter. Aktuell gibt es 16 Medikamente.

So ist es heute möglich, die Schubrate um bis zu 70 Prozent zu reduzieren, in manchen Fällen kann die Krankheit sogar gestoppt werden. Dass MS-Patienten in den nächsten zehn bis 15 Jahren geheilt werden, gilt trotzdem als unwahrscheinlich. Die gute Nachricht: Es gibt Ansätze, die eine zielgerichtete, personalisierte Behandlung ermöglichen sollen.

Zukünftiger Verlauf

Biomarker könnten etwa die Prognosegenauigkeit bezüglich des Krankheitsverlaufs verbessern. Damit wäre eine auf den Patienten maßgeschneiderte Therapie möglich. "Solche Biomarker gibt es aber bislang nicht", betont Kraus. Der wichtigste Parameter, um die derzeitige Aktivität der Erkrankung einzustufen, ist das MRT. Damit können aktive Läsionen im Gehirn identifiziert und die Zu- oder Abnahme im Vergleich zum vorigen Befund abgelesen werden. "Damit schließen wir auf den zukünftigen Verlauf, diese Prognose steht aber auf wackeligen Beinen", sagt Fuchs. Der Grund dafür: Der Verlauf der Erkrankung variiert meist stark, eine hochaktive MS kann in zwei Jahren praktisch zum Stillstand kommen und umgekehrt.

Das Protein Neurofilament (NFL) könnte ein vielversprechender Biomarker sein. Das fadenförmige Protein wird ausschließlich in Nervenzellen produziert. Bei neurodegenerativen Erkrankungen, die das zentrale Nervensystem schädigen, lässt es sich vermehrt im Blut nachweisen. Je größer die Nervenschädigungen sind, desto höher ist auch der NFL-Spiegel im Blut.

Engmaschiges Screening

"Der Ansatz ist nicht neu. Allerdings musste die Neurofilament-Konzentration bislang durch die ambulante Entnahme von Hirnflüssigkeit, eine sogenannte Lumbalpunktion, bestimmt werden. Das ist sehr aufwendig und unangenehm für die Patienten", erläutert Siegrid Fuchs.

Nun wurde eine neue Methode entwickelt, die so sensitiv ist, dass sich das NFL auch über eine Blutprobe bestimmen lässt. Damit könnte die NFL-Konzentration engmaschiger gemessen und die Aktivität der Erkrankung genauer bestimmt werden. Praktische Erfahrung mit der neuen Methode fehlt allerdings bislang noch. Im Idealfall könnten damit die vorhandenen Medikamente deutlich zielgenauer als heute eingesetzt werden. "Momentan ist eines unserer größten Probleme, dass wir nicht genau sagen können, wann welches Medikament notwendig ist oder nicht", sagt Fuchs. In einer Studie konnte bereits gezeigt werden, dass die NFL-Werte sinken, wenn Patienten mit bestimmten MS-Medikamenten behandelt werden.

Verdächtiges Virus

Möglicherweise verbergen sich hinter dem Begriff MS auch mehrere unterschiedliche Erkrankungen. "Das könnte erklären, warum Symptomatik und Verlauf so unterschiedlich sein können. In den nächsten Jahren wird es dazu sicher noch genauere Erkenntnisse geben", meint Kraus.

Ein möglicher Umweltfaktor, der im Verdacht steht, eine Form von MS auszulösen, ist das Epstein-Barr-Virus (EBV). Mehrere Studien haben gezeigt: Wer das Virus in sich trägt, hat ein doppelt so hohes Risiko, an MS zu erkranken. "Menschen, die sich nicht mit dem EBV infizieren, erkranken nicht an MS. Sie scheinen geschützt zu sein", sagte im Vorjahr der Neurologe Gavin Giovannoni von der London School of Medicine beim Schweizer MS-Fachkongress. "EBV kann in 100 Prozent der MS-Patienten nachgewiesen werden, insofern ist das ein interessanter Ansatz", bestätigt Fuchs. Mit einer Impfung wäre MS möglicherweise zu verhindern. Die gibt es aber noch nicht. (Günther Brandstetter, 17.1.2019)