Kanzler Kurz löste bei der Regierungsklausur in Mauerbach eine Debatte über das Frühaufstehen aus.

FOTO: APA/ROLAND SCHLAGER

Der Sager des Bundeskanzlers über das Aufstehverhalten von Wiener Familien ist auf viel Kritik gestoßen. In diesem Zusammenhang sollte das Augenmerk auch auf die grundlegende Gesinnung gerichtet werden, die solche Aussagen hervorbringt. Sebastian Kurz und andere vertreten, wohl auch im Dienste gesellschaftlicher Eliten, eine Haltung, die der Sozialwissenschafter Wilhelm Heitmeyer als rohe Bürgerlichkeit bezeichnet.

Hinter der Fassade zivilisierten Auftretens haben sich Abwertung und Diskriminierung von Menschen in weniger privilegierten sozialen Lagen breitgemacht. Die Ideologie der Ungleichwertigkeit gepaart mit autoritären Einstellungen drückt sich in einer Sprache der Verachtung von Menschen mit weniger Geld und Bildung aus. Wer in der Konkurrenz um Einkommen, Positionen und Anerkennung nicht mithalten kann, dem oder der soll auch nicht geholfen werden.

Die rohe Bürgerlichkeit prägt die Politik der gegenwärtigen Bundesregierung. Viele Maßnahmen, etwa in der Arbeitszeit-, Bildungs-, Asyl- oder Sozialpolitik, sind zum einen gegen Arbeitnehmer, gesellschaftlich Benachteiligte und Hilfsbedürftige gerichtet. Sie drücken zum anderen eine Verachtung gegenüber jenen aus, die körperlich arbeiten und sich in prekären Lebenssituationen befinden.

Verteilungskampf

Dabei geht es nicht nur um Moral, sondern auch um handfeste Interessen. Schwächt man Schutzbestimmungen für Arbeitnehmer und reduziert die Unterstützung für Hilfsbedürftige, so bringt das für die Privilegierten einen doppelten Vorteil: Sie können mehr aus denen herausholen, die direkt oder indirekt für sie arbeiten, und ein kleinerer Teil des Reichtums, den sie sich aneignen möchten, fließt in staatliche Sozialbudgets. Die Aggression ist also Teil des Verteilungskampfes.

Besonders deutlich wird die Politik der rohen Bürgerlichkeit, wenn es um die Einkommen jener geht, die von Erwerbslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit betroffen sind. Startete die Regierung mit einer pauschalen Diffamierung als "Durchschummler", so setzt sie inzwischen einen Bedarf an – und einen Anspruch auf – Sozialleistungen mit Arbeitsunwilligkeit gleich. Wer den Schaden hat, braucht für die Verachtung nicht zu sorgen. Das schwächt die Widerstandskraft der Betroffenen und die Chance, dass sich andere mit ihnen solidarisieren. Die tatsächlichen Probleme von Erwerbslosigkeit und Armut werden übergangen – ganz nach dem ideologischen Stehsatz: "Wer wirklich arbeiten will, findet auch Arbeit".

Armut trotz Arbeit

Um dagegenzuhalten, muss erstens immer wieder betont werden, dass es an Arbeitsplätzen mangelt und Erwerbslosigkeit in kapitalistischen Gesellschaften die Regel und nicht die Ausnahme ist. In den Arbeitsmarkt ist schlicht kein Mechanismus zur Erreichung von Vollbeschäftigung eingebaut. Noch sind in Österreich Hunderttausende arbeitslos, und ein Ende des Rückgangs der Arbeitslosigkeit wird bereits prognostiziert.

Zweitens ermöglicht auch eine Erwerbstätigkeit nicht für alle die volle Teilhabe an der Gesellschaft. Denn der Arbeitsmarkt ist in mehrere Teilarbeitsmärkte aufgespaltet, und nur einer davon bietet dauerhafte Arbeitsplätze mit gutem Einkommen, Wertschätzung und voller Sozialversicherung. In anderen dominieren unsichere Arbeitsplätze mit niedriger Bezahlung und oft auch hohen körperlichen und psychischen Belastungen. In solchen Jobs, die Armut trotz Arbeit bringen, kann eine Unterstützung aus der bedarfsorientierten Mindestsicherung nötig werden. Ein Grund dafür ist neben dem Niedriglohn und den Gesundheitsrisiken die häufige Erwerbslosigkeit, wie wir sie etwa von Saisonbranchen wie dem Hotel- und Gastgewerbe und dem Bauwesen kennen.

Ausgrenzungen

Die Kehrseite der fehlenden Arbeitsplätze ist, dass Unternehmen und Organisationen nur einem Teil der Arbeitssuchenden eine Chance geben. Übrig bleibt man, wenn das Alter, das Geschlecht, die Herkunft oder die körperliche oder psychische Fitness als unpassend für den Job eingestuft wird.

Die vielen Einstellungsentscheidungen, die jeweils aus guten Gründen erfolgen, summieren sich zu Ausgrenzungen großer Gruppen auf dem Arbeitsmarkt. Derzeit stellt die Regierung nicht nur die Unterstützung für diese Personen infrage, sie reduziert auch aktiv die Zahl der Arbeitsplätze, auf denen sich Menschen einbringen können, denen sonst keine Chance gegeben wird. Das erfolgt über die Kürzung des AMS-Budgets und die Schließung oder Verkleinerung von Beschäftigungsbetrieben und Sozialprojekten.

Die Empörung über Sager, in denen die Verachtung für Benachteiligte ihren Ausdruck findet, ist wichtig. Zugleich muss man auch den zugrundeliegenden Vorurteilen, Unterstellungen und Verdrehungen etwas entgegenhalten, auf die sich die rohe Bürgerlichkeit stützt und die sie verstärkt. (Jörg Flecker, 16.1.2019)