Protest in Mauerbach: Das "Kurz-Evangelium" laut Attac-Aktivisten: "Nehmet den Armen, gebet den Konzernen."

Foto: Christian Fischer

Bereits im Jahre 1959 attestierte der deutsche Jesuit Oswald von Nell-Breuning dem Godesberger Grundsatzprogramm der SPD, "dass es sich weitgehend mit der katholischen Soziallehre deckt". Heutige akademische Vertreter der katholischen Soziallehre stehen in der Regel auf den Schultern von Nell-Breuning, einem der Nestoren dieses Faches. Für sie ist das Nahverhältnis von Kirche und ÖVP deshalb nicht viel mehr als eine – allerdings teilweise weiterhin wirkmächtige – historische Reminiszenz. Wie viele meiner Kollegen bin ich davon überzeugt, dass es heute unproblematisch oder sogar naheliegend ist, zugleich katholisch und links, katholisch und grün zu sein.

Ich stimme der von Andreas Khol in seinem Kommentar der anderen getroffenen Feststellung deshalb voll zu, dass das Christlich-Soziale und die ÖVP keineswegs identisch sind. Wie er trete ich für eine freie Kirche in einem freien Staat ein. Wie er bin ich davon überzeugt, dass die Kirchen im zivilgesellschaftlichen Diskurs weder auf überzeugungsfremde Machtmittel noch auf historische Privilegien setzen dürfen. Auch für mich sind die Grundprinzipien der katholischen Soziallehre diskursoffen. Man kann sie, um nochmals Nell-Breuning zu zitieren, "nicht melken": Wer sich ihrer bedient, erhält keine detaillierten tagespolitischen Anweisungen und Vorschreibungen.

Eindeutige Grenzziehungen

Hier aber trennen sich die Wege. Während Khol nur "drei tragende Grundsätze" der katholischen Soziallehre kennt, gehe ich von fünf Sozialprinzipien aus: Die Prinzipien Personalität, Solidarität und Subsidiarität sind durch das Gemeinwohlprinzip und die Option für die Armen zu ergänzen. Dass Khol die beiden letztgenannten Grundsätze unterschlägt, ist wenig erstaunlich. Im Gegensatz zu Khol bin ich zudem davon überzeugt, dass die Sozialprinzipien keineswegs inhaltsleer sind, sondern eindeutige Grenzziehungen vornehmen. Und dass man sie falsch interpretieren kann. Das tut Khol nämlich beim Subsidiaritätsprinzip.

Beginnen wir mit Letzterem: Die von Khol im Anschluss an Kurz vorgelegte Interpretation des Subsidiaritätsprinzips lautet "Hilfe zur Selbsthilfe, nicht mehr". Hilfe zu Selbsthilfe wird offenbar dann geleistet, wenn man Sozialhilfeempfängern die soziale Absicherung kürzt und sie dadurch zu selbstständigem Tun motiviert: "Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott." Ein weiterer Motivationsschub entstehe zudem, wenn man notleidende Menschen mit Denunziationsvokabeln wie Langschläfer, Sozialschmarotzer und Minderleister überschüttet. Ganz im Gegensatz dazu verpflichtet die katholische Soziallehre den Staat dazu, die Leistungskraft des Einzelnen nicht nur zu stärken und zu ergänzen, sondern, wenn notwendig, auch zu ersetzen.

Das Gemeinwohlprinzip

Khol unterschlägt in seinem Gastkommentar zudem das Gemeinwohlprinzip und die vorrangige Option der katholischen Soziallehre für die Armen. Die US-amerikanische Bischofskonferenz hat dieses Prinzip wie folgt erklärt: "Das grundlegende moralische Kriterium für alle wirtschaftlichen Entscheidungen, politischen Maßnahmen und Institutionen ist dieses: Sie müssen allen Menschen dienen, vor allem den Armen." Das Gemeinwohlprinzip kann auch gut mit einem Zitat des Kirchenvaters Ambrosius von Mailand erklärt werden: "Es ist nicht dein Gut", stellte er im vierten Jahrhundert fest, "mit dem du dich gegen den Armen großzügig erweist. Du gibst ihm nur zurück, was ihm gehört. Denn du hast dir nur herausgenommen, was zu gemeinsamer Nutzung gegeben ist. Die Erde ist für alle da, nicht nur für die Reichen."

Die Politik der Regierung Kurz dagegen ist eine Politik der vermeintlich sicheren Abschottung vor und der kompletten Ausblendung von globaler Not. Sie folgt einer bürgerlichen Theologie, einer, wie Heinrich Böll es einmal nannte, "Turnlehrertheologie", in der Wirtschaftsflüchtlinge und Depressive, Schlappschwänze und Nichteinzahler in unser Sozialsystem keinen Platz finden. Das aber ist Khol'sche Soziallehre, nicht katholische. (Kurt Remele, 16.1.2019)