Ein nicht mehr lange britisch beflaggter Platz im EU-Parlament.

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So viel Applaus hat Michel Barnier im Plenum des EU-Parlaments wohl noch nie bekommen. Dem Brexit-Chefverhandler der EU-27 kam Mittwoch in einer Aussprache in Straßburg die Aufgabe zu, das krachende Scheitern des Deals im Unterhaus in London am Vorabend zu erklären und mögliche Auswege für die Zukunft aufzuzeigen.

Als er fertig war, paschten die Abgeordneten aus fast allen Fraktionen laut und auffallend lange in die Hände – Ausdruck "des besonderen Vertrauens" in ihn, wie Präsident Antonio Tajani festhielt.

Eine konkrete Lösung hatte Barnier freilich nicht anzubieten. Die Wahrscheinlichkeit für einen ungeregelten Austritt ("no deal") des Vereinigten Königreichs aus der Union sei nach der deutlichen Ablehnung so hoch wie nie zuvor, sagte er. Irland kündigte schon an, die Vorkehrungen zu verstärken. Es gelte abzuwarten, was die britische Regierung wolle, sagte der Franzose. Diese müsse "rote Linien" überschreiten. Er bedauerte, dass ein in zwei Jahren von beiden Seiten erarbeiteter guter Kompromiss nun auf Eis liege. Die Union sei bereit zu neuen Gesprächen, unter zwei Bedingungen: Der Austrittsvertrag von fast 600 Seiten solle bleiben, wie er ist, die darin fixierten Rechte der Bürger für die Zeit nach dem Brexit dürften nicht angegriffen werden.

Künftiges Drittland

Aber sonst wäre die EU bereit, viel konkreter und deutlicher über die künftigen Beziehungen zwischen den EU-27 und dem Königreich als künftigem Drittland nach einer Übergangszeit bis Ende 2020 zu verhandeln. Das hatte am Abend zuvor auch Kommissionschef Jean-Claude Juncker stark betont. Laut Barnier müssten die britische Regierung und das Unterhaus den Partnern endlich sagen, was sie eigentlich wollten. Im Gerede ist, dass die Briten sehr enge Beziehungen zur EU halten könnten, etwa über ein Freihandelsabkommen, das weiter geht als jenes mit Kanada. Man spricht von "Ceta plus". Auch eine Beziehung nach dem norwegischen Modell sei denkbar, was die Opposition von Labour anstrebte.

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Über all das könnte in den kommenden Wochen Einigung gefunden werden, hoffen die EU-27, was in einer zweiten Abstimmung im Unterhaus münden würde. Um keine Zeit zu verlieren, wird das EU-Parlament das Ratifikationsverfahren zum Brexit-Deal unbesehen der Lage in London fortsetzen. Der EU-Rat hat das Austrittsabkommen an die Straßburger Ausschüsse weitergeleitet.

Märztermin wackelt

Die Überlegung ist: Sollte es "fünf vor zwölf" eine Einigung im britischen Parlament geben, wäre der Märztermin haltbar. Die Regierung in Paris hat unterdessen erstmals die Möglichkeit angedeutet, dass der für 29. März Mitternacht geplante Termin für den Austritt verschoben werden könnte. Damit würde man zusätzlich etwas Zeit gewinnen. Die Kommission in Brüssel nimmt da eine striktere Haltung ein.

Wenn die Staats- und Regierungschefs den Märztermin einstimmig verschieben, müssten die Briten an den EU-Wahlen teilnehmen, was in London niemand anstrebt. Dann würden die Turbulenzen mit den Briten vermutlich die EU-Wahlen im Mai und die Neukonstituierung des EU-Parlaments Anfang Juli samt der Direktwahl des neuen EU-Kommissionspräsidenten überlagern: eine Unruhe, die die Parteien um ihren Wahlkampf fürchten.

Die deutsche Regierung ist daher anders als die französische vorsichtiger, was die Verschiebung des Austrittstermins betrifft: Damit werde man sich befassen, wenn es so weit sei, sagte eine Sprecherin in Berlin. (Thomas Mayer aus Straßburg, 16.1.2019)