In Österreich ist zuletzt eine alte Debatte neu entflammt: Wie ist der Ausbildungsgrad der aus Syrien, dem Irak und Afghanistan gekommenen Menschen eigentlich? Das Arbeitsmarktservice hatte im Jänner 2016 erste Zahlen aus seinen Kompetenzchecks veröffentlicht, die besonders für Iraker und Syrer eine recht hohe Akademikerquote auswiesen. Nun sind neue AMS-Zahlen aufgetaucht, die dem widersprechen. Was stimmt aber nun? Ein Gespräch dazu mit Judith Kohlenberger, die an der Wirtschaftsuniversität Wien zu dem Thema forscht.

STANDARD: Sie haben Daten zum Ausbildungsstand der Flüchtlinge erhoben, am Höhepunkt der großen Flüchtlingsbewegung 2015. Was waren die Erkenntnisse?

Kohlenberger: Die Gruppe der 2015 und später Geflüchteten ist eine sehr heterogene, vor allem, was Syrer, Iraker und Afghanen betrifft, also die drei Nationalitäten, die uns am meisten beschäftigen. Innerhalb der Nationalitäten gibt es doch einen Trend. Menschen aus Syrien und dem Irak haben solide bis hohe Bildungsniveaus. So zeigt sich quer über unterschiedliche Datenquellen hinweg, dass unter Syrern etwa 20 bis 25 Prozent einen postsekundären Bildungsabschluss mitbringen. Das würde in Österreich dem Abschluss einer berufsbildenden höheren Schule ab dem vierten Schuljahr entsprechen sowie allen darüber hinausgehenden Ausbildungen, etwa einer universitären. Bei den Afghanen ist das Bild ganz ein anderes. Da gibt es eine sehr große Gruppe – etwa ein Viertel der Menschen –, die nie im regulären Schulsystem war.

STANDARD: Sie haben Menschen befragt, die am Beginn ihres Asylprozesses standen. Ist da nicht anzunehmen, dass die Betroffenen ihre Angaben geschönt haben, um sich einen Vorteil zu verschaffen?

Kohlenberger: Das ist ein häufiger Einwand. Generell muss man sagen, dass die primäre Erhebungsmethode in den quantitativen Sozialwissenschaften Selbstauskünfte sind. Die Menschen mussten mehrmals in der Befragung ihre bisherige Ausbildung und ihren bisherigen Beruf angeben, die Antworten waren konsistent. Sozial erwünschte Antworten kann man nie ausschließen. Aber oft war diesen Menschen, die erst einige wenige Tage in Österreich waren, gar nicht bewusst, was es ihnen bringen würde, sich besser darzustellen. Die Erhebungen waren komplett anonym, somit ist ein persönlicher Vor- oder Nachteil ausgeschlossen. Darauf werden Studienteilnehmer standardisiert hingewiesen.

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Werte- und Deutschkurse für anerkannte Flüchtlinge in Österreich.
Foto: Picturedesk

STANDARD: Hat das AMS 2016 das Ausbildungsniveau in den Kompetenzchecks zu positiv dargestellt?

Kohlenberger: Es gibt weiterhin die regulären Daten aus den AMS-Kompetenzchecks, mit denen das AMS bevorzugt agiert, wobei es sich nicht um wissenschaftliche Erhebungen handelt. Geflüchtete werden sechs Wochen, Frauen acht, in der Praxis getestet, ob ihre Angaben ihren tatsächlichen Fertigkeiten entsprechen. Seitdem die ersten Daten 2016 veröffentlicht wurden, hat sich wenig an den Ergebnissen verändert: Der Prozentsatz der aus Syrien Geflüchteten mit Uni-Abschluss ist über die Zeit sehr konstant geblieben. Daneben gibt es auch Zahlen, die von AMS-Mitarbeitern beim Erstkontakt eines Geflüchteten erhoben werden. Diese Daten zeigen in der Tat einen niedrigeren Ausbildungsgrad der Geflüchteten, der sich durch eine Untererfassung erklären lässt.

STANDARD: Warum sollte es zu einer Untererfassung kommen?

Kohlenberger: Die AMS-Betreuer dokumentieren bei Erstkontakten den höchsten Abschluss. Wenn eine Ärztin aus Syrien nach Österreich kommt, braucht sie eine Nostrifizierung, damit ihr Medizinabschluss als belegt gilt. Liegen keine entsprechenden Dokumente vor, wird sie vom AMS-Berater mit der nächst höchsten anerkannten Ausbildung ins System eintragen. Das wäre in diesem Fall eine Matura. Das ändert natürlich das Bild. In den späteren Kompetenzchecks wird getestet, ob das, was die Frau sagt, richtig sein kann, ob es die Uni, wo sie angeblich studiert hat, wirklich gibt, und wenn alles stimmt, wird die Frau mit entsprechend höherer Ausbildung registriert.

STANDARD: Aber die Bildungssysteme in Syrien und im Irak sind nicht mit jenem in Österreich vergleichbar. Die internationalen Analysen, die es gibt, geben dem syrischen Schulsystem sehr schlechte Noten. Wie wertvoll ist ein Abschluss aus Syrien in Österreich?

Kohlenberger: Es stimmt, dass die Zahl der Jahre, die jemand in einer Schule verbracht hat, wenig über die Qualität der Bildung aussagt. Diese wurde in unserer Studie nicht erhoben. Aber generell gilt: Je mehr Zeit jemand im Schulsystem verbringt, umso leichter fällt es dem Betroffenen, etwas Neues zu lernen. Man hat das Lernen gelernt. Und höher Gebildete sind im Regelfall motivierter und interessierter. Umgekehrt bedeutet das, dass es eine besonders große Herausforderung sein wird, jene Afghanen, die nie mit dem Schulsystem in Kontakt kamen, ans Lernen hinzuführen.

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Wie viel nützt Flüchtlingen die Ausbildung, die sie in ihrem Heimatland absolviert haben?
Foto: Picturedesk

STANDARD: Der deutsche Bildungsökonom Ludger Wößmann argumentiert, dass selbst unter den Syrern ein großer Teil der Menschen aus Sicht der Bedürfnisse eines Industrielandes funktionale Analphabeten sind. Eben weil das Bildungssystem so anders ist. Wie sehen Sie die Perspektive der Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt?

Kohlenberger: Es wird ein langer Weg. Eine Faustregel besagt, dass es etwa fünf Jahre dauert, bis 50 Prozent einer Flüchtlingskohorte in Beschäftigung gebracht sind. Da liegen wir gut im Plan. Es dauert bis zu 15 Jahre, bis sich die Arbeitsmarktperformance von Geflüchteten an jene von regulären Migranten angepasst hat, zeigt eine Wifo-Studie. Zugleich glaube ich, dass sowohl Österreich als auch Deutschland bei den Integrationsbemühungen von der guten Konjunktur profitieren kann. Man sieht auch anhand von Einzelbeispielen – Stichwort Lehre für Asylberechtigte –, dass es einen Bedarf in ländlichen Regionen gibt, die von Fachkräftemangel betroffen sind. Andererseits gibt es ein gewisses Paradoxon, was den Bildungsgrad von Geflüchtete betrifft.

STANDARD: Und zwar?

Kohlenberger: Je höher gebildet jemand ist und je eher jemand in einer qualifizierten Tätigkeit beschäftigt sein möchte, umso länger kann der Weg in den Arbeitsmarkt dauern. Das ist allein schon wegen der besseren Deutschkenntnisse der Fall, die in solchen Berufen oft erforderlich sind. Deshalb ist es oft leichter für Menschen, in Hilfsberufen unterzukommen.

STANDARD: Was ist empfehlenswert? Politisch gefordert wird oft, dass sich Flüchtlinge schnell einen Job suchen, um nicht auf die Mindestsicherung angewiesen zu sein. Wäre es andererseits angesichts der großen Unterschiede nicht klug, die Flüchtlinge zuerst auszubilden, etwa über eine Lehre?

Kohlenberger: In den vergangenen Jahren hat es einen Sinneswandel gegeben. Früher lautete das Credo, Flüchtlinge sollen so schnell wie möglich am Arbeitsmarkt integriert werden, um sie von unterstützenden Leistungen wegzubekommen. Mittlerweile wurde das revidiert, weil diese Strategie nicht unbedingt nachhaltig ist. Gerade wenn viele junge Menschen unter den Flüchtlingen sind, die noch eine Ausbildung machen könnten, bringt es nichts, sie in prekäre Hilfsarbeiterjobs zu drängen, wo sie eher Gefahr laufen, wieder arbeitslos zu sein. Lehre ist also ein Weg, nachhaltige Integration zu ermöglichen.

STANDARD: Wo sehen Sie besonderen Handlungsbedarf bei Integrationsangeboten?

Kohlenberger: Wesentlich wäre, stärker die Gruppe der Frauen in den Fokus zu nehmen. Frauen sind Multiplikatoren bei der Integration: Wenn es gelingt, sie in den Arbeitsmarkt einzubinden, schlägt sich das viel stärker auf die zweite und dritte Generation nieder. Das wird in nicht allzu ferner Zukunft Thema sein: Wie tun sich die Kinder der 2015 Geflüchteten?

Kohlenberger: Größte Herausforderung sind die Afghanen.
Foto: Rumpler

STANDARD: Wie kann das aussehen?

Kohlenberger: Pilotstudien zeigen, dass geflüchtete Frauen kaum vor anderen Herausforderungen stehen als österreichische Frauen. Großes Thema sind Mehrfachbelastungen. Gerade in stärker patriarchal geprägten Partnerschaften, wie sie viele syrische Paare leben, sind Frauen für Kinderbetreuung und Haushalt zuständig, aber auch dafür, im neuen Land die alten Traditionen weiterzuleben. Sie sind Projektionsfläche vieler Erwartungen der Familie, aber auch der Mehrheitsgesellschaft. Wir erwarten zum Beispiel, dass diese Frauen sofort und begeistert alle Freiheiten in Österreich nützen. Vielen Frauen würden flexible Integrationsangebote helfen.

STANDARD: Ein Beispiel?

Kohlenberger: Frauen sollten ihre Kinder in Kurse mitnehmen können oder Kurse mit Kinderbetreuung belegen können. Viele Frauen leben aufgrund ihrer Erfahrungen mit Trennungsängsten. Ihnen würde helfen, Deutschkurse vormittags in den Schulen ihrer Kinder anzubieten, damit sie in der Nähe sein können. Es sollte Möglichkeiten geben, Frauen von zu Hause rauszuholen. Das können auch ganz niederschwellige Angebote sein wie Kaffeehaustreffs. Wenig wünschenswert sollte sein, dass Frauen vorrangig zu Hause bleiben.

STANDARD: Gibt es dieses Problem bereits, dass Frauen nach Österreich kommen und nach Asylanerkennung zu Hause verschwinden?

Kohlenberger: Die Herausforderung für die Integration ist, dass selbst die hohe Bildungserfahrung vieler Frauen nicht immer in Erwerbserfahrung übersetzt wurde. Über 90 Prozent der geflüchteten Männer haben irgendwann in ihrem Leben schon gearbeitet. Bei den Frauen sind es um die 40 Prozent. Das ist ein Phänomen aus den Herkunftsländern: Frauen erwerben eine universitäre Ausbildung, wenden diese aber selten an. Es wäre ein Problem, wenn das in Österreich so weitergeführt wird. Aber es gibt auch Anzeichen für einen Wandel, wie etwa eine relativ hohe Scheidungsrate unter Syrern in Österreich. Das kann auf eine stärkere Selbstbestimmung hindeuten. Eine zusätzliche Schwierigkeit könnte sein, dass auch die Geburtenrate von Geflüchteten ansteigt, sobald Asyl zuerkannt wird, was häufig nach erfolgter Migration der Fall ist. Der Kinderwunsch wird während Krieg und Flucht aufgeschoben und erst realisiert, wenn man in Sicherheit ist. Wer in Mutterschutz oder Karenz ist, steht dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, meldet sich vielleicht auch später nicht beim AMS. Man bräuchte daher auch für jene Frauen, die schon einige Jahre hier sind, Angebote, weil für sie der Weg in den Arbeitsmarkt, der Integrationsweg, erst verspätet beginnt. (András Szigetvari, 17.1.2019)