Die Politik der türkis-blauen Bundesregierung zieht – in Bezug etwa auf die restriktive Einwanderungspolitik oder in Bezug auf die Neuordnung der Mindestsicherung – zunehmend Kritik vonseiten katholischer Akteure und Gruppen auf sich. Die historische Nähe des Katholizismus zur ÖVP spielt dabei im Hintergrund eine Rolle. Zwar hat Sebastian Kurz unter anderem mit der Umfärbung von Schwarz auf Türkis ein deutliches Zeichen der Relativierung der historischen "schwarzen" Wurzeln im politischen Katholizismus gesetzt; aber es gibt nach wie vor die Erwartung in Teilen der Kirche und der katholischen Verbände, dass sich die ÖVP ihrer sozialkatholischen Tradition verpflichtet weiß. Gerade in diesen sowohl kirchennahen als auch volksparteiaffinen Kreisen führt es zu Irritationen, wie nah die "Neue Volkspartei" politisch an den rechtspopulistischen Koalitionspartner herangeführt wird.

Überraschend kommt vor diesem Hintergrund eine Intervention des Wirtschaftskammerpräsidenten Harald Mahrer im STANDARD vom 5./6. Jänner 2019. Ausgerechnet Mahrer, der wohl als einer der Mitarchitekten des türkisfarbenen Umbaus der Volkspartei gelten darf, mahnt nun die Notwendigkeit einer "Konjunktur des Christlich-Sozialen" an. Mit Verweis auf die Trennung von Religion und Politik weist er zwar die unter dem "Schlagwort 'christlich-sozial'" angeblich an die ÖVP gestellte Forderung zurück, die reine religiöse Lehre zu vertreten. Im nächsten Atemzug aber belehrt er seinerseits die – von ihm als "selbsternannten Anwälte christlich-sozialen Handelns" bezeichneten – Regierungskritiker innerhalb und außerhalb der Volkspartei recht vollmundig und streng darüber, was das Christlich-Soziale tatsächlich bedeutet – als Wirtschaftskammerpräsident wahrscheinlich nicht "selbsternannt", sondern dazu berufen. Das läuft letztlich darauf hinaus, die Regierungspolitik zu rechtfertigen – und darauf, die katholische Sozialtradition buchstäblich zu halbieren.

Rhetorik der Abschottung

Natürlich ist das vorrangige Ziel eines christlich-sozialen Gerechtigkeitsverständnisses nicht sozioökonomische Gleichheit. Aber das Augenmerk liegt auf den besonders benachteiligten Menschen, also gerade auf jenen, denen durch eigene Unzulänglichkeit, durch schwierige Lebensumstände, durch gesellschaftliche Verachtung oder durch wirtschaftliche und politische Benachteiligung das Leben besonders schwer gemacht wird. Einen Wahlkampf maßgeblich mit einer Rhetorik der Abschottung gegen Menschen, die vor Gewalt flüchten, und der Schließung von Fluchtrouten zu führen, steht diesem Gerechtigkeitsverständnis diametral entgegen.

Natürlich muss das Verhältnis von Solidarität und Eigenverantwortung sozialstaatlich fein austariert werden. Aber dafür gibt es in der katholischen Soziallehre das Prinzip der Subsidiarität. Dieses Prinzip besagt nicht nur, dass kleinere Einheiten Vorrang vor größeren Einheiten haben und dass Selbsthilfe Vorrang vor staatlicher Unterstützung hat, sondern auch, dass die größeren Einheiten den kleineren helfen müssen und dass staatliche Unterstützung dort geboten ist, wo Menschen sich nicht selbst helfen können. Dass Asylwerbern mit dem Verbot, eine Lehre aufzunehmen, die Möglichkeit, ein eigenverantwortliches Leben zu führen, von der Politik aus der Hand gerissen wird, ist das Paradebeispiel für einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip.

Ausgleich der Interessen

Natürlich gibt es in der Sozialverkündigung der Kirche einen starken Impuls für wirtschaftliche Freiheit und ökonomische Effizienz. Aber Grund und Kriterium dafür ist das Wohl aller Menschen. Dann (und nur dann) ist Eigentum im Sinne seiner Sozialpflichtigkeit legitim, wenn es nicht nur dem Eigenwohl der Eigentümer, sondern zugleich dem allgemeinen Wohl dient. Weil dies offenkundig nicht immer der Fall war und ist, ist in der sozialkatholischen Tradition der positive Zugang zur Marktwirtschaft untrennbar mit einer Kapitalismuskritik verknüpft. Typisch für das katholische Sozialmodell ist deshalb der Ausgleich der Interessen von "Kapital und Arbeit", also von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, über das Medium der Sozialpartnerschaft, aber auch die solidarische Finanzierung der Sozialabgaben über ein Sozialversicherungssystem. Das Untergraben der Sozialpartnerschaft desavouiert das katholische Wirtschafts- und Sozialmodell ebenso wie das Ausdünnen der versicherungsförmigen Organisation der sozialen Sicherung. Gerade in diesem Sinne darf wirtschaftliche Freiheit nicht gegen Solidarität ausgespielt werden.

Auch die bedeutende Rolle der Sozialverbände für die Architektur der Sozialpolitik ist ein zentrales Kennzeichen christlich-sozialer Politik. Im Sinne der Solidarität hat etwa die Caritas auch ein gesellschaftliches und ein politisches Mandat. Sie übernimmt mit einem hohen Maß an Professionalität und Sachkenntnis Aufgaben für die Gesellschaft, die sie im Sinne der Subsidiarität vom Staat übertragen bekommt. Angesichts der Qualität und des Umfangs, in dem die Caritas ihre Aufgaben erfüllt, ist es beschämend, welche Polemik ihr nun entgegenschlägt. Erst recht wäre es eine groteske Verkehrung des Subsidiaritätsprinzips, wenn die Politik der Caritas und ähnlichen Organisationen die Aufgaben entzieht, um sie selbst zu übernehmen.

Beschleunigter Prozess

In säkularen und weltanschaulich pluralen Kontexten ist es selbstverständlich, dass sich überkommene Bindungen lösen. Im Fall von ÖVP und Katholizismus ist dieser Prozess seit Jahrzehnten zu beobachten, Kurz hat ihn nur beschleunigt. Grundsätzlich ist das der ÖVP auch nicht vorzuwerfen, zumal der Prozess auf der Ebene der Länder anders verläuft als auf Bundesebene. Mahrer weist zu Recht darauf hin, dass seine Partei alle Menschen ansprechen möchte. Wenn diese Menschen weniger an eine bestimmte Tradition – wie eben an die christlich-soziale Idee – gebunden sind, ist es selbstverständlich, dass sich auch eine Partei anders orientieren kann. Die einstige Legitimationsfunktion hat das Christentum, haben Katholizismus und katholische Kirche für die Volkspartei nach und nach verloren. Und umgekehrt orientieren sich ja auch viele Katholiken gesellschaftlich und politisch längst anders, in zivilgesellschaftlichen Bewegungen oder in anderen Parteien. Zum Unterstützerkreis der Linzer Donnerstagsdemonstrationen gegen die türkis-blaue Regierung gehören beispielsweise mehrere katholische Organisationen. Das alles sind selbstverständliche Phänomene in modernen Gesellschaften und ist niemandem vorzuwerfen.

Mahrer wirft den Kritikern der Regierungspolitik Scheinheiligkeit und eine Instrumentalisierung des Christlich-Sozialen vor, moduliert selbst das Christlich-Soziale aber gerade so, dass es der "Neuen Volkspartei" und ihrer Regierungspolitik in den Kram passt. (Christian Spieß, 16.1.2019)