Selbst der stets gut vorbereitete und auf seine Wortwahl bedachte Bundeskanzler ist nicht perfekt. Die unbewusste Aussage von Sebastian Kurz über die Wienerinnen und Wiener nämlich, dass dort immer weniger Menschen in der Früh aufstehen, um zu arbeiten, und in immer mehr Familien nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen, wurde für den österreichischen Medienkanzler zum Bumerang.

Die sonst so minutiös aufgebaute Message Control hatte in diesem Fall keine Chance gegen die Macht des Unbewussten. Die Feststellung des ÖVP-Chefs zur Leistungsmoral und Disziplin der Wiener Stadtbewohner triggerte große Teile der Bevölkerung der Bundeshauptstadt jenseits des SPÖ-Wählerklientels und löste einen Shitstorm aus, der von der Wiener SPÖ gerne für ein Vorwahlgeplänkel instrumentalisiert wurde. Was aber noch schlimmer ist, ist die Tatsache, dass die immer schon schwer berechenbare Wiener Seele stimuliert wurde und dadurch unbeabsichtigt der "Rote Riese" der Stadt Wien aus dem Tiefschlaf gerissen wurde.

Der Rote Riese erwacht

Sogar wenn der neue Wiener Bürgermeister Michael Ludwig noch nicht genug Zeit hatte sich wirklich ein charismatisches und farbenfrohes Polit-Profil zuzulegen, wurde zweifelsfrei die Wiener Seele durch eine zu wenig in Bezug auf ihre Konsequenzen antizipierte Äußerung in emotionale Schwingung versetzt. Sollte die schwarz-blaue Regierung so weiter machen, beleidigt sie auf diese Weise nicht nur zum Teil ungewollt viele Bürger der Weltstadt sondern macht auch – sicher nicht intendiert – die Hausaufgaben der Wiener Sozialdemokraten, die dann nur das ehemalige Modell des "Mia sein Mia" eines Jörg Haiders in Kärnten oder eines Franz Josef Strauß übernehmen müsste und Wien dadurch zum Gallischen Dorf mutieren lässt. In diesem Zusammenhang wird dann spannend sein zu sehen, was mehr zieht, das Ausländer- und Migrationsthema oder die innere Solidarität, Geschlossenheit und Einheit der Wiener.

Kurz unbedachte Aussage löste einen Aufschrei in Wien aus.
Foto: APA/HANS KLAUS TECHT

Unbekannte im Kampf um Wien

Eines steht aber, wie im STANDARD-Kommentar "Der Kampf um Wien ist eröffnet" von Petra Stuiber treffend beschrieben wurde, bereits fest: Das Scharmützel um die Wähler der Bundeshauptstadt wurde weit vor dem offiziellen Wahltermin 2020 eingeläutet. Schwierig wie kaum eine Wahl zuvor wird aber der Ausgang jener in der Donaumetropole zu prognostizieren sein. Zu viele Unbekannte beinhaltet die Formel für den Wahlausgang sowie der Faktor der vielzitierten Wiener Seele, die nicht durch einen Algorithmus à la Cambridge Analytica zu erfassen ist. Wie viel Profil kann der pragmatische Bürgermeister Ludwig über die Zeit noch zulegen? Mit welchem Spitzenkandidaten geht die FPÖ in die Wien-Wahl? Kann der seriös wirkende ÖVP-Kandidat Gernot Blümel vom Phänomen Kurz profitieren und wird es dieses bis 2020 noch in dieser Form geben? Das sind Kernfragen rund um die mit Spannung erwartete Schicksalswahl für die Sozialdemokraten – nicht nur in Wien.

Die Wiener Seele und die Sozialdemokratie

Wien ist zweifelsohne das Machtzentrum der Sozialdemokratischen Partei Österreichs. Fällt die Hauptstadt für die Sozialdemokraten, kommt dies einem Todesstoß der SPÖ gleich. Ein multiples Organversagen im Torso der Jahrhundertbewegung wäre die Folge und kein Stein würde in der Partei auf dem anderen bleiben, denn das rote Wien steht für die gelebten Werte der Bewegung. Die Mentalität der Wiener ist komplex und nicht in eine einfache Dichotomie von politisch links oder rechts Denkenden zu klassifizieren. Nicht ohne Grund verfasste der Tiefenpsychologe Sigmund Freud in Wien seine Neurosenlehre. Wien ist anders und die sensible Seele der Stadt reagiert resistent gegenüber Druck, egal woher er kommen mag. Wie besagt schon die Inschrift auf dem vom ehemaligen roten Bürgermeister Helmut Zilk enthüllten Gedenkstein im Sigmund-Freud-Park "Die Stimme des Intellekts ist leise".

Hoffen wir in seinem Sinne, dass sie in Zusammenhang mit der kommenden Wien-Wahl nicht ruht ehe sie sich Gehör verschafft hat. Denn um diesen weiter zu zitieren, findet sie am Ende nach unzähligen Abweisungen doch noch Gehör. Einer der wenigen Punkte in denen man laut Freud für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf. (Daniel Witzeling, 21.1.2019)

Userkommentare von Daniel Witzeling