Mehr als 1.000 Pestizide sind in Österreich zugelassen. Der Streit über Risiken und Nebenwirkungen zieht einen tiefen Graben durch die Landwirtschaft.

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STANDARD: Ich habe Ihnen einen steirischen Apfel mitgebracht. Er wird im Schnitt 30-mal gespritzt, also einmal die Woche. Kann ich ihn bedenkenlos essen?

Zaller: Sie werden nicht dran sterben. Die Regeln für die Grenzwerte sind streng, und diese sind niedrig. Es gibt jedoch auch unterhalb dieser Grenzwerte für Menschen gesundheitliche Risiken, gerade wenn es um Wirkstoffe geht, die in den Hormonhaushalt eingreifen, zeigen Untersuchungen. Und die Grenzwerte gelten immer nur für einzelne Stoffe. Also nicht für die Summe aller 30 verschiedenen Pestizide, die im Laufe einer Saison auf Äpfel aufgebracht werden.

STANDARD: 1.200 Pestizide sind in Österreich zugelassen. Die Landwirtschaft setzt jährlich rund 4.000 Tonnen davon ein. Auch wenn das noch wenig über die Konzentration der Wirkstoffe aussagt – schlägt einem das nicht auf den Magen?

Peck: Überhaupt nicht. Sie können österreichische Äpfel ohne Vorbehalte verzehren. Mittel werden erst dann angewandt, wenn man mit mechanischem Pflanzenschutz nicht mehr auskommt. Wir wollen keine Breitbandmittel, die alles einmalig abdecken – darum so viele unterschiedliche Pflanzenschutzmittel. Sie werden auch nicht vorbeugend eingesetzt, sondern ganz gezielt und spezifisch für jeweilige Indikationen. Es sollen sich keine Resistenzen bilden.

Zaller: Ich sehe das kritischer. Natürlich gibt es Prüfungen und Kontrollen. Österreichische Obstbauern verwenden aber immer noch Mittel, bei denen im Sicherheitsdatenblatt vermerkt ist, dass sie vermutlich Krebs erregen können. Captan zum Beispiel. Sechs Mittel gibt es in Österreich, die es enthalten. Da stellt es mir die Haare auf. Offenbar wird der Einsatz geduldet.

STANDARD: Die Chemieindustrie betont, dass ihre Pestizide so streng wie Medikamente kontrolliert werden. Was macht Bauern so sicher, dass der Einsatz bedenkenlos ist?

Peck: Obst- und Gemüsebauern verwenden die Mittel, wie gesagt, nicht breit über alles hinweg und auch erst, nachdem sie geprüft haben, ob sie mit mechanischen Methoden oder Nützlingen auskommen. Der Konsument zieht österreichisches Obst und Gemüse der Importware vor. Das beweist das hohe Vertrauen in unsere Produkte. Jeder Händler ist froh, sie zu haben. Weil sie die sichersten weltweit sind. Weil Österreich die strengsten Richtlinien im Pflanzenschutz hat. Weil wir uns selbst so oft Prüfungen unterziehen.

Gemüseproduzent Josef Peck (re.) beißt bedenkenlos in jeden österreichischen Apfel. Ökologe Johann Zaller genießt ihn nur mit Vorsicht.
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STANDARD: Spar ließ mit Blick auf Erdäpfel jüngst wissen, kein "giftiges Zeug" in den Regalen haben zu wollen. Viele Händler fahren lieber eigene Programme, um Pestizide zu reduzieren, als sich dabei nur auf ihre Lieferanten zu verlassen.

Peck: Wir wollen unsere österreichischen Produkte in den Regalen – da brauchen wir uns vor keinem Vergleich zu scheuen. Richtlinien sollten aber international für alle Produktionen gleich gelten. Importiertes Obst und Gemüse gehört genauso gut kontrolliert wie unseres. Das würde uns helfen. Unsere Bauern und Gärtner haben Fachkundenachweise für die Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln. Sie haben das gelernt und lassen ihre Geräte streng kontrollieren – damit so viel wie möglich auf die Kulturen kommt und so wenig wie möglich in die Umwelt.

STANDARD: Ist Österreich hier Vorreiter?

Zaller: Ich würde nicht sagen, dass wir besonders streng sind. Wir haben ein gutes Kontrollsystem, die meisten Kontrollen laufen jedoch weniger über die Behörde als über Handelsunternehmen. Dass wir besser sind als die Nachbarländer, wage ich nicht zu behaupten.

Peck: Ich schon. 2018 etwa gab es in Österreich bei gezogenen Gemüseproben keine einzige Überschreitung des Höchstwerts.

STANDARD: Grenzwerte sind unter Experten umstritten, zumal sie sich in der Regel an gesunden Erwachsenen orientieren. Sind sie zu Recht mit Vorsicht zu genießen?

Zaller: Meiner Ansicht nach schon – sie sind situationselastisch, werden ständig nach oben korrigiert. Der Glyphosat-Grenzwert für Soja etwa wurde in den vergangenen 15 Jahren um das 200-Fache angehoben. Nicht, weil wir jetzt mehr über vermeintliche Unschädlichkeit von Glyphosat wissen, sondern weil es Landwirtschaftsmethoden gibt, die so viel Herbizidaufwand nach sich ziehen, dass man die Produkte gar nicht mehr unter den strengen Grenzwerten erzeugen kann. 2016 wurde in der Folge in der EU bei 21 Pestiziden der Grenzwert verdoppelt.

Peck: Gestiegen ist die Menge der Mittel außerhalb Europas, etwa in Amerika. Da gebe ich Ihnen recht. In Europa aber sind Investitionen in die Registrierung von Pestiziden rückläufig. Sie sind auch in Summe weniger geworden.

Zaller: Gemessen an den Wirkstoffen ist die Ausbringung in Österreich über die vergangenen 25 Jahren in etwa gleich geblieben.

Josef Peck, Vorstand der LGV-Frischgemüse: "Pestizide werden nicht vorbeugend eingesetzt, sondern gezielt und spezifisch. Es sollen sich keine Resistenzen bilden."
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STANDARD: Weitgehend unerforscht ist die Cocktailwirkung von Pestiziden. Unterschätzt die Landwirtschaft dieses Risiko?

Peck: Auch hier scheuen wir keinen Vergleich. Bei der Feststellung der Zahl dieser Summenbelastungen schneiden wir in Österreich wesentlich besser ab als un sere Mitbewerber im Ausland.

STANDARD: Langzeitstudien über die Folgen der Rückstände fehlen.

Zaller: Definitiv. Mir geht es aber auch um die Belastung der Landwirte, der Gärtner, jener, die die Mittel ausbringen. Das Produkt an sich mag gut kontrolliert werden, was jedoch draußen am Feld passiert, ist unklar. Hier wird wenig kontrolliert. In Deutschland wurde bei verdeckten Kontrollen festgestellt, dass 50 Prozent der Landwirte falsch dosieren. Ich bekomme viele Anrufe besorgter Bauern. Ein Marchfelder etwa hatte vor 15 Jahren während des Spritzens einen Zusammenbruch und leidet seither unter starken gesundheitlichen Problemen. Er führt sie auf die Pestizidbelastung zurück und erzählte mir, er sei schon als Kind, wenn sein Vater spritzte, barfuß übers Feld gelaufen. Natürlich sagen Sie mir gleich, das sei keine sachgemäße Anwendung. Aber so ist halt die Realität. Es gibt Studien aus Dänemark über Gärtnerinnen, die Probleme mit der Schwangerschaft haben. Nicht zu reden von Entwicklungsländern, wo die Leute nicht wissen, womit sie da hantieren. Auch bei uns rührten früher Gärtner mit der bloßen Hand die Spritzbrühe um. Es gab blindes Vertrauen in die Substanz.

Peck: Umso wichtiger ist die Ausbildung. Alle unsere Erzeuger haben den Sachkundenachweis. Das sind Familien, die jeden Tag in der Gärtnerei stehen. Sie achten auf ihre Gesundheit, und sie haben den Umgang mit Pflanzenschutz gelernt. Das unterscheidet sie von Hobbygärtnern, die in Baumärkte gehen und sich dort Mittel kaufen. Unsere Leute wollen sich zudem ja auch wirtschaftlich nicht schaden. Jeder versucht, so günstig wie möglich zu produzieren, keiner bringt daher unnötig Pestizide aus.

Zaller: Diese Mittel sind allerdings günstig, günstiger als jede alternative Maßnahme.

STANDARD: Zwingt der Klimawandel zu einem stärkeren Einsatz von Pestiziden? Im Vorjahr gab es aufgrund der starken Dürre bei Kartoffeln massive Ausfälle.

Peck: Es ist eine neue Herausforderung, ein steter Veränderungsprozess, der zu erforschen ist.

Zaller: Der Klimawandel bringt nicht notwendigerweise viele neue Probleme. Man kann mit entsprechenden Sorten, Anbausystemen reagieren. Wobei die konventionelle, energieintensive Landwirtschaft selbst stark zum Klimawandel beiträgt, weltweit sicherlich zu 15 Prozent.

STANDARD: Kann Gentechnik bei der Pestizidreduktion helfen?

Zaller: Nein. Wenige große Konzerne rissen sich bei der klassischen Gentechnik Patente unter den Nagel und verlangen für Saatgut und Anbausysteme Lizenzgebühren. Es werden Rundum-sorglos-Pakete verkauft: Saatgut plus Pflanzenschutzausrüstung. Es gab Versprechen, mit der neuen Technik werde der Pestizidaufwand sinken. Das Gegenteil war der Fall, Resistenzen bildeten sich.

Peck: Auch wir wollen die Gentechnik nicht. Zum einen fehlt die Langzeiterfahrung. Zum anderen wollen wir alte Sorten aufrechterhalten. Das wäre mit Gentechnik nicht möglich. Wir wollen keinen Einheitsbrei, sondern Vielfalt und Differenzierung.

Johann Zaller, Ökologe an der Wiener Boku: "Gärtner rührten früher mit der bloßen Hand die Spritzbrühe um. Es gab blindes Vertrauen in die Substanz."
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STANDARD: Ein komplettes Verbot von Pestiziden, ist das Illusion?

Zaller: Es sollte ohne chemisch-synthetische Pestizide gehen. Wir dürfen aber nicht vergessen, auch biologische Landwirte verwenden Pestizide, bei diesen ist aber zumeist die Zusammensetzung besser bekannt. Ganz ohne geht es sicher nicht. Man kann nicht einfach Samen ausstreuen, zuschauen, wie es wächst, und ernten, so realistisch bin ich. Ich glaube jedoch, es ginge mit viel, viel weniger. Sehen Sie sich die Applikationstechniken, Sprühgeräte im Wein- und Obstbau an, diese Fontänen, Wolken von Pestiziden, das müsste nicht sein. Da gibt es modernere Tunnelsprühanlagen, die aber selten eingesetzt werden.

STANDARD: Eine Kostenfrage?

Peck: Das muss es nicht sein. Wir ersparen uns ja die Aufbringungsmenge. Wir fahren auf jeden Fall mit den modernsten Geräten. Im Weinbau wird schon jetzt in Tunneln gespritzt. Überschüssige Mittel, die von den Blättern tropfen, werden aufgefangen und in den Tank zurückgesaugt.

STANDARD: Bioanbau ist teurer als konventionelle Produktion.

Peck: Sie ist aufwendiger. Das wird aber auch abgegolten und vom Konsumenten honoriert. Österreich hat einen Bioanteil von 21 Prozent bei Obst und rund 20 Prozent bei Gemüse, wir sind damit europaweit Spitze.

STANDARD: Bio hat jedoch Grenzen und ist nicht für jeden leistbar.

Zaller: Noch ist der Biomarkt nicht gesättigt, da ist Luft nach oben. Lebensmittel sollten einen höheren Stellenwert in unserem Leben einnehmen, die Landwirte mehr dafür bekommen. Die Produkte werden teurer, die Bauern bekommen aber nach wie vor gleich viel auf die Hand wie vor 30, 40 Jahren.

Peck: Mehr kann es immer sein. Aber für gute Produkte gibt es einen ordentlichen Lohn, vor allem für Innovationen. Hier haben wir kein Problem mit unseren Handelspartnern. Wir wollen daher vermehrt Spezialitäten anbieten. Es gibt aber durchaus Obst- und Gemüsesorten, die sich alle leisten können. Und das soll so bleiben.

Zaller: Die Preise sprechen jedoch nicht die ökologische Wahrheit. Umweltkosten, die etwa durch die Verunreinigung des Trinkwassers verursacht werden, wälzt man der Allgemeinheit über, anstatt sie den Produkten selbst zuzuschreiben, was die ehrlichere Rechnung wäre. Umweltfolgekosten müssten auf die Pestizidpreise aufgeschlagen werden.

Spritzmittel sind der Schönheit zuträglich. Doch wie makellos muss ein Apfel sein?
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STANDARD: Wo sehen Sie den stärksten Hebel, um den Einsatz von Pestiziden klein zu halten?

Zaller: Ich würde sie im Privatbereich komplett verbieten. Derzeit dürfen die Leute ohne Sachkundenachweis mit den gleichen Wirkstoffen sprühen wie Landwirte. Da könnte man sechs, sieben Prozent der Menge reduzieren. Kommunen könnten sich stark einschränken, bei Sportplätzen etwa und Schwimmbädern, wo Rasen regelmäßig besprüht werden, weil sich manche über den blühenden Klee aufregen – ein Unfug auf Kosten der Umwelt und Gesundheit. Im Profibereich ist der Großteil der Anwender sehr wohl noch mit alter Technik unterwegs. Da bräuchte es staatliche Unterstützung. Pestizide dürfen in Umwelt und Trinkwasser nicht nachweisbar sein.

STANDARD: Nachweisen lässt sich durch feine Analysemethoden mittlerweile freilich fast alles ...

Zaller: Wenn Studien zeigen, dass nachweisbare Konzentration negative Auswirkungen auf Amphibien, auf Bienen und Bodentiere hat, muss man die Bremse ziehen.

Peck: Ich gebe Ihnen im Hobbybereich recht. Im Profibereich setzen wir stark auf Aufklärung, Ausbildung, neue Maschinen und Geräte. Wir wollen auf jeden Fall Richtung Reduktion gehen. Nachweisbar ist jedoch der berühmte Würfelzucker im Bodensee.

Zaller: Es gibt auch Riesenpotenzial in der Sortenvielfalt, hier lassen sich viel Pestizide einsparen. Man muss etwa nicht immer den Golden Delicious als Apfel haben. Er ist sehr empfindlich, was Schorf betrifft. Und es wäre Aufklärung gefragt, was kosmetische Ansprüche an Früchte anbelangt. Ein Apfel schmeckt wegen eines Schorfflecks nicht anders, wird jedoch drei-, viermal weniger gespritzt.

Peck: Wir können Obst und Gemüse mit kleinen Schönheitsfehlern als sogenannte Wunderlinge verkaufen. Ein sympathischer Zugang, sie sind ja geschmacklich voll in Ordnung. Das müssen wir uns nur vermehrt trauen.

STANDARD: Sollte auf Äpfeln etwa künftig auch ausgeschildert werden, wie stark sie gespritzt wurden?

Zaller: Das wäre wünschenswert, wird aber sicher nicht passieren.

Peck: Wir unterstützen volle Information. Aber viel mehr Transparenz, als wir ohnehin schon haben, gibt es nicht. Alles wird dokumentiert, jeder Kontrolleur kann das in den Betrieben überprüfen.

Zaller: Die Landwirte haben Aufzeichnungspflicht, nur kennt man die Daten leider nicht. Ich habe es mehrfach versucht, in Ministerien nachgefragt. Man versteckt sich hinter Datenschutz.

Peck: Wenn Sie dazu Informationen brauchen, können Sie sich bei uns melden. Wir haben nichts zu verbergen. (Verena Kainrath, 18.1.2019)