Nimmt ohne zu moralisieren ein heikles Thema auf: der Autor und "Spiegel"-Redakteur Takis Würger.

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Takis Würger, "Stella". € 22,70 / 224 Seiten. Hanser, München 2019

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Jüdische Gestapo-Kollaborateure waren bislang in erster Linie Fachhistorikern bekannt. Takis Würger möchte mit seinem Tatsachenroman Stella aber einem größeren Publikum von den sogenannten Greifern erzählen.

An dem vergangenen Freitag erschienenen Buch entzündete sich sofort eine Debatte. Ein stürmisches Rauschen im deutschen Blätterwald war bei diesem Thema abzusehen, die Heftigkeit der Auseinandersetzung jedoch zeigt, dass der Spiegel-Journalist einen empfindlichen Nerv getroffen hat.

Neben diversen positiven Besprechungen hagelte es vor allem Verrisse: Die Zeit rügte "Gräuel im Kinderbuchstil", der Deutschlandfunk fragte empört: "Wo beginnt der Holocaust-Kitsch?". Und die FAZ fühlte sich gar an Würgers vor Weihnachten zu Fall gebrachten Hamburger Kollegen erinnert und urteilte: "Relotius reloaded".

Die Wut vieler Kritiker rührt womöglich daher, dass Takis Würger das Tabuthema auf ungewöhnliche Weise angeht und mancher Rezensent irrtümlicherweise meint, es mit einem Sachbuch zu tun zu haben. Der Autor des vor zwei Jahren sehr erfolgreichen Boxerromans Der Club betätigt sich hier allerdings nicht als Reporter, sondern als Schriftsteller.

Schweizer Erzähler

So ist die titelgebende, historisch verbürgte Stella Goldschlag gar nicht die Hauptperson, wie es sich in einer gut gearbeiteten Dokumentation gehören würde. Stattdessen schildert diese unerhörte Begebenheit ein Schweizer, der 1942 nach Berlin kommt.

Mit dem Schritt in die deutsche Hauptstadt will sich der junge Mann von seiner Mutter befreien, einer begeisterten Hitler-Verehrerin, die aus ihm die Künstlerperson machen wollte, die sie nie sein konnte. Das Atelier des vermeintlichen Künstlers auf dem Dachboden erweist sich jedoch als Mausoleum: "Ohne Hast drehte ich jede Leinwand auf dem Dachboden. Die Leinwände waren leer. Auf dem Tisch lag der eingetrocknete Tuschkasten. Ich nahm ihn mit. Allein ging ich zum See, hob einen Stein vom Ufer, ließ ihn durch die noch dünne Eisschicht splittern und warf den Tuschkasten ins Wasser."

Die Farben, die es braucht, um klar sehen zu können, setzt Würger gekonnt als Leitmotiv ein: Der Protagonist ist seit seiner Kindheit vollkommen farbenblind – die Grauzone als Existenz. In der deutschen Hauptstadt versteht er es somit auch nicht, sich angesichts des virulenten Antisemitismus zu positionieren. Die Berliner üben sich dagegen in hysterischem Fanatismus – oder abgestumpfter Gleichgültigkeit: "Ständig reden die vom Endsieg und von Krieg, dem Jud und dem Iwan. Das ist doch alles wumpe. Sollen sie lieber mal sagen, wann es wieder Kernseife zu kaufen jibt."

Selbstverleugnung

Der Erzähler ist freilich sorgenlos und verliebt sich in eine Jüdin, die ihm mit inniger Zärtlichkeit begegnet, jedoch anderweitig die Drecksarbeit der Teufel erledigt: Von der Gestapo mit dem Leben ihrer Eltern erpresst, spürt die blonde Schönheit für ihre Folterknechte andere Juden auf. Takis Würger schildert eindrücklich, wie die nackte Angst in den Wahn und die Selbstverleugnung führt: "Sie sei keine Jüdin, sagte sie. Sie sehe nicht aus wie eine Jüdin, habe keine jüdischen Freunde, spreche kein Jiddisch. 'Ich bin doch ganz arisch', sagte sie."

Stellas Gestapo-Kontaktmann hat für diesen Kummer gegenüber ihrem Geliebten nur menschenverachtenden Spott übrig: "Die Goldschlag, keiner zwingt s'. Die ist auf ihre verreckte Art ihrem Vaterland treuer als wir zwei miteinand." Würger gelingt das Kunststück, dieses heikle Thema nicht als simplen Agententhriller enden zu lassen: Statt sich auf Stellas dämonische Detektivarbeit zu konzentrieren, zeichnet er atmosphärisch dicht und faktenreich das gesellschaftliche Klima in Nazideutschland nach, das solche Verzweiflungstaten hervorbrachte.

Abgedroschene Klischees

Aber Würger benutzt zuweilen auch äußerst abgedroschene Klischees – da wird aus Fliederblüten Nektar gesaugt, Berlin riecht nach Bohnerwachs, und die Tränen des Helden sind im Regen nicht zu sehen. Dass derartiges Schlagervokabular bei einem solch sensiblen Stoff manchem professionellen Leser auf den kritischen Magen schlägt, ist durchaus nachvollziehbar.

Insgesamt jedoch ist dieser Roman eine packende Darstellung der nationalsozialistischen Brutalität, an dessen Ende nur bittere Ratlosigkeit steht: "Ich weiß nicht, ob es falsch ist, einen Menschen zu verraten, um einen anderen zu retten. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, einen Menschen zu verraten, um einen anderen zu retten." Wenn die Gewalt regiert, lassen sich manche Dinge eben nicht mehr rational erklären. (Johannes Lau, 18.1.2019)