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Kurdische Kämpfer der YPG 2017 an der türkischen Grenze.

Foto: REUTERS/Rodi Said

Den Nordosten Syriens kontrollieren kurdische Verbände mit ihren christlichen und jesidischen Verbündeten. Diese Frauen und Männer waren es, die den Islamischen Staat im Häuserkampf besiegt und einen hohen Blutzoll bezahlt haben. Sie haben dabei auch tausende Gefangene genommen, darunter 900 IS-Kämpfer aus der EU.

"Es sind blonde Männer mit blauen Augen darunter. Sie sind völlig gehirngewaschen und schwärmen vom Jihad", erzählt Mohammed, mein Kontaktmann der Autonomen Verwaltung Nordostsyriens, bei meinem Besuch vor einigen Tagen. Er hat selbst mit einigen dieser Männer gesprochen. "Sie reden vom Paradies und glauben wirklich, dass sie etwas Gutes getan haben, als sie für den IS gekämpft haben. Die sind so verdreht im Kopf, da dringst du nicht durch. Eure europäischen Konvertiten sind wirklich die Schlimmsten. Totale Fanatiker."

So viele Islamisten in einer instabilen Region eingesperrt zu halten ist natürlich ein Sicherheitsrisiko, ganz abgesehen von den hohen Kosten. Also versucht die Autonome Verwaltung diese Kämpfer an ihre europäischen Heimatländer zu übergeben – aber die EU-Regierungen rühren keinen Finger. Sie reagierten bis jetzt nicht einmal, berichtet "Außenminister" Aldar Khalil. Das könnte sich jetzt rächen.

Die Nachkriegsordnung

Der Krieg in Syrien tobt noch erbittert, aber er ist de facto entschieden. Den Großteil des Landes beherrscht das Assad-Regime, es sitzt wieder fest im Sattel. Die Kurden haben sich mit vielen Minderheiten verbündet und kontrollieren den Nordosten. Im Nordwesten und einigen Wüstengebieten haben (noch) Islamisten das Sagen. Die Nachkriegsordnung werden Bashar al-Assad und die Kurden aushandeln. Was wiederum der türkische Präsident Tayyip Erdoğan nicht akzeptieren will. Er droht, einzumarschieren und die kurdischen Gebiete zu erobern. Bisher hat ihn die Präsenz der US-Soldaten, der Verbündeten der Kurden, davon abgehalten. Aber US-Präsident Donald Trump hat bekanntlich – ohne mit den Verbündeten zu sprechen – den schnellstmöglichen Rückzug angekündigt.

Die Vorhut dieses Einmarsches werden wohl nicht reguläre türkische Einheiten bilden, sondern islamistische Verbände, Söldnertruppen, irreguläre und inoffizielle Kommandos. Und dann? "Wir werden die Menschenrechte achten", sagt mein kurdischer Kontaktmann Mohammed. "Wir werden keine Gefangenen hinrichten. Wenn die islamistischen Verbände die Gefängnisse erobern, werden wir die Insassen lebend zurücklassen. Es wird kein Massaker an wehrlosen EU-Bürgern geben, das kann ich garantieren."

Feige Prinzipienlosigkeit

900 IS-Kämpfer aus der EU könnten also bald von islamistischen Milizen befreit werden und untertauchen. Dann sind sie wohl mehr unser Problem als das der Kurden. Denn diese Menschen wurden nicht im Nahen Osten radikalisiert, sondern in Europa. Sie waren schon Islamisten, als sie in den Kampf zogen. Ihre Netzwerke haben sie hier.

In Syrien herrscht seit sieben Jahren Krieg. Saudis, Iraner und Türken haben unterschiedliche Gruppen finanziert und sich gegenseitig bekämpft. Russlands Präsident Wladimir Putin hat Assad gerettet. Die Amerikaner haben die Kurden ausgebildet und gegen den IS unterstützt, jetzt verlieren sie das Interesse. Und Europa? Frankreich und Großbritannien haben kleine Verbände an der Seite der Amerikaner, das war's. Politische Aktivitäten? Fast null. Interesse? Nicht einmal null.

Wobei, ganz stimmt das nicht. Der Krieg hat Flüchtlinge erzeugt, und die sollen bleiben, wo sie sind. Also gab es einen Flüchtlingsdeal mit Erdoğan. Damit erpresst er die europäischen Regierungen: Wenn ihr aufmuckt, kommen die Flüchtlinge, also schön den Mund halten. In allen Belangen – 168 Medienleute sitzen in türkischen Gefängnissen.

Für unsere feige Prinzipienlosigkeit werden wir die Rechnung präsentiert bekommen, spätestens wenn die europäischen IS-Kämpfer plötzlich wie vom Erdboden verschluckt sind. Was können wir tun? Erdoğan bräuchte Europa mehr als wir ihn. Er braucht die Handelsabkommen für die Textilindustrie, die Überweisungen der türkischen Community in Europa, die Touristen, die Nachbarschaftsprojekte, auch die Gelder des Flüchtlingspakts. All das sollte Erdoğan verlieren, wenn er Ernst macht.

Schulterklopfen reicht nicht

Es reicht nicht, dass Europa den Kurden auf die Schultern klopft, "Danke, dass ihr den IS besiegt habt" sagt und sich abwendet. Die autonome Region Nordostsyrien ist das einzige demokratische, säkulare, ethnisch pluralistische politische Projekt im Nahen Osten. Wenn wir sie Erdoğan überlassen, verlieren auch wir.

Aber wer weiß, vielleicht gewinnen die Kurden und ihre Verbündeten den Kampf ja. Eine christliche Vizebürgermeisterin sagte mir: "Wenn wir zwischen Erdoğan und Assad wählen müssen, nehmen wir Assad. Erdoğan würde uns massakrieren, Assad wird uns leben lassen. Also werden wir uns mit ihm verbünden und bis zur letzten Patrone kämpfen."

Putin lacht. Europa macht schon wieder einen Knicks vor ihm. (Michel Reimon, 18.1.2019)