Bild nicht mehr verfügbar.

Wer gerade nach vorn schaut oder aus der Reihe tanzt, ist oft nicht so klar wie beim EU-Gipfel in Salzburg, wo Theresa May ihre Ziele vortrug.

Foto: Reuters / Lisi Niesner

Früher war alles besser! Diesen Satz werfen Menschen gerne in die Runde, wenn es Frust gibt – in der Familie, im Sportverein, in der Politik. Und im Vereinigten Königreich mit seinen 66 Millionen Einwohnern beim Brexit-Streit. Insgesamt 507 Millionen EU-Bürger zanken, bangen mit.

Nationalisten und Rechtsparteien spielen besonders gerne mit dem Mythos der Vergangenheit. Politikforscher konstatieren, dass die Kampagne der Brexiteers 2016 für den EU-Austritt erfolgreich war, weil eine knappe Mehrheit der Briten die "alte Größe" ihres Landes in der Vergangenheit stärker im Visier hatte, als an die Kraft der EU in der Zukunft zu glauben.

Je größer die Herausforderung, desto mehr haben die Illusionen Hochkonjunktur. Deshalb waren nicht nur erzkonservative Tories für den Brexit, sondern auch viele Labour-Wähler in Arbeiterhochburgen früherer Schwerindustriestädte. Vorwärts zurück!

Dazu gibt es das Gegenmodell: Vorwärts in die Zukunft! Wir bräuchten viel mehr Europa, um Probleme unserer Zeit zu lösen: EU-Steuern, Eurobudget, gemeinsame Armee, EU-Polizei, einen echten Präsidenten. Nicht zufällig erscheinen gerade immer mehr Bücher und Initiativen, die sich für die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa aussprechen.

Der Schriftsteller Robert Menasse hat mit der Politikwissenschafterin Ulrike Guérot gar die "Republik Europa" ausgerufen. Es brauche die alten Nationalstaaten nicht mehr. Nur noch Europa.

Aber ist das realistisch für eine Union, die sich seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 als politische Großbaustelle präsentiert? Die mit dem bahnbrechenden Projekt der Euroeinführung vor zwanzig Jahren nicht zurande kommt? Die an den Folgen der Erweiterung um dreizehn Staaten seit 2004 kiefelt, auseinanderdriftet – wie im Streit um die Migrationspolitik?

Jahrhundert-Entscheidung

Fast kann man den Eindruck gewinnen, der Brexit sei eine List der Geschichte, eine Lektion, um die verträumten Europäer aufzuwecken. Die EU entwickelte sich immer schrittweise, in konkreten Reformen. Konzepte gibt es genug, es wird dann nur wenig umgesetzt.

Pragmatisch vorgehen, würden die Briten sagen, und den Vorteil im Blick haben. Der bestünde darin, nach der Trennung verbunden zu bleiben – wirtschaftlich und politisch. Und nicht wie bei einer schlechten Scheidung auch noch das ganze Familienporzellan zu zerschlagen bzw. das gemeinsame Vermögen zu vernichten.

Man kennt das: Je böser sich Partner trennen, bis auch noch das Ehebett auseinandergesägt wird, desto mehr leiden am Ende alle – die Kinder, die Freunde, die Großfamilie, die künftige Patchworkfamilie. Um nichts anderes geht es beim Versuch, den Brexit zivilisiert über die Bühne zu bringen.

UK – das ist jenes staatliche Gebilde auf der großen Insel im Westen, das als "Empire" bei der größten Ausdehnung 1922 ein Weltreich war. Mit allen Kronkolonien, Protektoraten und Besitzungen dominierte es die globale Ordnung, umfasste 450 Millionen Einwohner, ein Viertel der Menschheit damals – viel mehr als die EU heute. Klar, dass London niemals schnell klein beigeben wird.

Es wäre ein Fehler der EU zu glauben, sie könnte die Briten eben notfalls als Loser behandeln, weil die verbleibenden 27 Staaten nach deren Abschied so richtig durchstarten würden – als Wirtschaftsgigant. Pläne dafür gibt es schon. Bei einem EU-Sondergipfel im rumänischen Sibiu (Hermannstadt) wollen die EU-27 im Mai ein großes Reformprojekt starten.

Das Ziel: Bis 2020 soll es einen neuen EU-Vertrag geben, einen echten Schub an Integration. Manche glauben, das werde umso leichter gelingen, wenn die Briten als "Bremser" von Bord seien. Die Erfahrung zeigt: Ob es um Steuerfragen, Bankenunion, gemeinsame Militärpolitik geht, oft verstecken sich Regierungen nur hinter Widerständen aus London, um ihre eigene Unwilligkeit zu kaschieren.

"Lasst Europa auferstehen!"

Der Streit um die Digitalsteuer hat das sehr gespiegelt. Die künftige EU und das Drittland Großbritannien werden einander besser als Freunde brauchen, nicht nur in der Sicherheitspolitik. Das lehrt auch der Blick in die Geschichte. Es waren die Briten, die sich unter Premier Winston Churchill Hitler entgegenstellten, Europa mit den Alliierten von Wahnsinn und Verbrechen des Nationalsozialismus befreiten. Und es war Churchill, der in seiner Züricher Rede 1946 den Anstoß gab, sich zu einer Friedensgemeinschaft aufzumachen: "Lasst Europa auferstehen!"

Erstaunlich: Er stellte sich damals eine Art Vereinigte Staaten vor: "We must build a kind of United States of Europe." Die heutige EU entstand als deutsch-französisches Aussöhnungsprojekt. Sie begann vorsichtig, als Wirtschaftsgemeinschaft. Eine angedachte "Militärunion" scheiterte an Frankreich. Die Briten bildeten in der EFTA (mit Österreich) ein freihändlerisches Gegenstück. Die Franzosen hatten in den 1960er-Jahren ihre Beitrittsanträge abgelehnt. 1973 trat das Land dann doch bei, aber schon 1975 erzwang die Labour-Partei ein Referendum über die Mitgliedschaft. Zwei Drittel der Briten lehnten den EWG-Austritt ab.

Dennoch: Zwanzig Jahre lang schienen die drei Großmächte in der EG dann ausbalanciert, ehe es nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 wieder zu einem Abdriften kam: London beteiligte sich nicht an gemeinsamer Währung und innerer Sicherheit, sicherte sich Ausnahmen. Eine späte Folge davon ist der Brexit – eine historische Entscheidung im Jahrhundertmaßstab.

Eine Atommacht geht, ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat, zweitstärkste Volkswirtschaft der EU, ein großer Nettozahler. Deutschland wird nun noch stärker. Das hat das Potenzial, Architektur und Balance der EU gewaltig zu verändern: negativ, wenn es wirtschaftlich chaotisch wird. Ärmere EU-Staaten kämen in Bedrängnis. Oder positiv: wenn nach der Trennung eine respektvolle Weiterentwicklung gelingt. (Thomas Mayer, 19.1.2019)