Im Istanbuler Stadtteil Karakoy gibt es eine hypermaskuline Shopping-Unterführung. In rund einem Dutzend Geschäfte kann man sich dort mit Luftgewehren, Funkgeräten, Beilen und Outdoorkleidung für einen Kleinkrieg ausrüsten. An der Wand prangt ein Propagandaposter, das die im Syrien-Krieg gefallenen Soldaten als Märtyrer preist.

Eine Spezialeinheit kämpft sich in "Börü – Die Wölfe" durch das überwiegend von Kurden bewohnte Diyarbakır, um die Stadt von Terroristen zu säubern.
Foto: Screenshot/Netflix

Im postnationalistischen, postheroischen Zeitalter ist die Türkei nie angekommen. Vielleicht weil es anstatt zweier alles einäschernder Weltkriege hier 1918–1923 einen Befreiungskrieg gab, der die Republik überhaupt erst begründete. Vielleicht weil trotz 90 Jahren Modernisierung und Zivilgesellschaft patriarchale Strukturen noch tief sitzen. Oder weil die Gesellschaft mit der zweitgrößten Armee der Nato aufgrund der geopolitischen Lage und interner Fliehkräfte tatsächlich auch militaristischer sein muss, als es man es sich im weitgehend befriedeten Mitteleuropa vorstellen kann.

Verrat, Tapferkeit und Liebe

All diese Fragen kann man sich stellen, wenn man Börü – Die Wölfe sieht. Börü heißt Wolf und ist die erste türkische Netflix-Produktion: Eine Spezialeinheit der türkischen Armee kämpft sich durch das überwiegend von Kurden bewohnte Diyarbakır, um die Stadt von Terroristen zu säubern. Es geht um Verrat, Spione, Tapferkeit und etwas Liebe. Die Serie beruht auf "wahren Begebenheiten". Gedreht hat Börü der 37-jährige Erfolgsregisseur Alper Çaglar.

Der Wolf ist das mythische Symboltier der türkischen Nation. Es nährte den Nomadenkrieger, als dieser noch durch die zentralasiatische Steppe zog, bevor er zu seinen Eroberungszügen Richtung Europa aufbrach. Nach ihm sind auch die "Grauen Wölfe" benannt, jene halbgeheime Mafiaorganisation, der zahlreiche Anschläge auf Kurden, Aleviten, Armenier und andere Minderheiten zugeschrieben werden. Politisch steht die Organisation der ultranationalistischen MHP nahe. Die Partei, die bei Wahlen meist zwischen zehn und 15 Prozent holt, ist neuerdings Mehrheitsbeschaffer für Erdoğans AKP und treibt diese nach rechts außen.

Die Bösen in Börü sind nicht die Kurden. Die Bösen sind – wie in den meisten Actionfilmen – Terroristen: ein paar IS-, aber vor allem kurdische PKK-Terroristen. Mit dem Kampf gegen den Terror rechtfertigte Ankara 2015 die Zerstörung fast der Hälfte der Altstadt von Diyarbakır. Dass dabei auch tausende Zivilisten zumindest schweren Schaden genommen haben, nahm man in Kauf. Und genauso rechtfertigt die Regierung den geplanten Einmarsch in Nordsyrien, wo die YPG vernichtet werden soll, die Ankara für einen Ableger der PKK hält.

Offener Brief an Netflix

Jetzt kritisiert unter anderen die kurdische Gemeinde Deutschlands die Serie. Mit einem offenen Brief wendet sich der stellvertretende Vorsitzende Mehmet Tanrıverdi an Netflix mit der Bitte, die Serie nicht mehr auszustrahlen: "Einmal mehr kommen Kurden nur als sogenannte 'Terroristen' vor, die keine Stimme, kein Gesicht, sondern nur eine Waffe in der Hand haben und auf die man nicht mit Dialog, sondern nur mit Waffengewalt reagieren muss", heißt es darin.

Das ist eine berechtigte Kritik, trotzdem wäre ein Ausstrahlungsstopp völlig überzogen. Denn Börü ist tatsächlich eine eindimensionale Actionserie, die zwar großen Anklang in jener anfangs beschriebenen Istanbuler Shopping-Unterführung finden dürfte, ansonsten aber das Prädikat "künstlerisch wertlos" verdient. Die Guten sind gut, die Bösen einfältige und charakterlose Terroristen. Es stellt sich also die Frage: Wie viele Fernsehserien gehörten nach dieser Logik verboten? (Philipp Mattheis, 22.1.2019)