Mutter und Junges sitzen ruhig in einem Baum und schauen auf die Gruppe Menschen herab, die Handys, Ferngläser und gigantische Teleobjektive in die Höhe halten. Nach einer Weile hangelt sich das Orang-Utan-Weibchen mit ihrem Jungen am Bauch, vom Dauerklicken der Kameras begleitet, geschickt am Waldrand entlang bis zum nahen Gärtchen eines Angestellten: Dort wächst ein Baum mit Früchten, die dreimal so groß sind wie eine Ananas. Geschwind beißt sie eine ab, transportiert sie zwischen den Zähnen in den nächstgelegenen hohen Baum und vertilgt sie dort genüsslich.

Das Danum Valley Conservation Center ist einer der wenigen Orte im Nordosten der Insel Borneo, wo noch Primärregenwald steht, ein Wald also, der weitgehend von Menschen unberührt geblieben ist – 130 Millionen Jahre lang. Er zählt zu den ältesten und artenreichsten der Erde und ist auch Heimat der Orang-Utans.

Orang-Utans zählen zu den nächsten Verwandten des Menschen und gehören zu den bedrohten Arten. Hauptgrund dafür ist der Verlust von Lebensraum.
Foto: Christian Fischer

Waldmenschen verschwinden

Solche Wälder sind rar geworden auf Borneo, und so verschwinden auch die Waldmenschen, wie die roten Menschenaffen auf Malaiisch heißen. Seit 1999 sank ihre Zahl um geschätzte 100.000 Tiere, das wäre ein Rückgang von mindestens 25 Prozent. So lautet das Fazit einer Studie, die vergangenen Februar veröffentlicht wurde und an der Forscher des Max-Planck-Instituts (MPI) für evolutionäre Anthropologie und des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) in Leipzig beteiligt waren.

So kritisch die Situation auch erscheint, noch lässt sich der Abwärtstrend aufhalten. "Wir haben so viele Tiere verloren, dass wir die Artenschutzstrategien der vergangenen Jahrzehnte nun auf den Prüfstand stellen: Was hat funktioniert? Was hat nicht funktioniert?", sagt Erik Meijaard, Gründer von Borneo Futures, einem Netzwerk von 350 Wissenschaftern, die den Naturschutz auf Borneo auf wissenschaftliche Füße stellen. Das Ziel ist, Industrie und Regierung zu beraten. So ist die Regierung gerade dabei, einen Aktionsplan für 2019 bis 2027 zum Schutz der Orang-Utans zu erstellen.

Lebensraum wird abgeholzt

Eine der Hauptursachen für den Rückgang der Menschenaffen ist die Umwandlung von Regenwald in landwirtschaftliche Fläche, etwa zum Anbau von Ölpalmen. Regenwald wird aber auch für Gummi- und Kakaoplantagen, die Herstellung von Zellstoff und Papier und zum Bau von Minen geschlagen. In 30 Jahren wurden so 16,8 Millionen Hektar abgeholzt – eine Fläche, die fast halb so groß wie Deutschland ist. Hinzu kommen Brände, die in den vergangenen Jahren große Flächen Regenwald vernichtet haben.

Die Regierungen Borneos haben inzwischen erkannt, dass ihr Wald schützenswert ist, nicht nur als Lebensraum einzelner Tierarten. So kündigte Malaysias Regierung Anfang September an, dass die verbliebenen 50 Prozent der Walddecke des Landes erhalten bleiben sollen. Ähnliches gilt für den indonesischen Teil von Borneo. "Das ist eine positive Entwicklung. Aber das löst nicht alle Probleme für Orang-Utans", sagt Meijaard. Denn neben dem Schwinden der Wälder gibt es einen weiteren Grund für ihren raschen Rückgang: Orang-Utans werden von Einheimischen getötet. "Das möchte niemand gerne hören", sagt die Maria Voigt von iDiv, "aber wir verlieren viele Tiere in intakten Wäldern." Denn dort wird viel gejagt.

Video über Borneo-Orang-Utans von Borneo Futures.
Borneo Futures

Gefährlicher Kontakt mit Menschen

Hinzu kommt, dass durch die großflächige Erschließung der Wälder Orang-Utans zunehmend in Kontakt mit Menschen kommen. "Sie sind weder in Plantagen noch Gärten gerne gesehen, denn sie fressen die Früchte, die Menschen für ihren Lebensunterhalt anpflanzen. Das kann tödlich für sie enden", sagt die Biologin.

Meijaard und seine Kollegen schätzen, dass jährlich rund 2000 Orang-Utans auf diese Weise enden. Dabei ist jeder einzelne einer zu viel: "Die Tiere pflanzen sich sehr langsam fort. Weibchen bekommen nur alle sechs bis acht Jahre ein Junges. Die Population sinkt selbst bei einzelnen Tötungen schnell unter einen kritischen Schwellenwert", sagt Marc Ancrenaz, Tierarzt und Mitgründer von Borneo Futures. "Wir müssen die Tötungsrate reduzieren", so Meijaard, "sonst sind fast alle Populationen außerhalb der Schutzgebiete zum Tode verurteilt." Also 70 Prozent der verbliebenen 70.000 bis 100.000 Tiere.

Wissenschaftliche Fakten berücksichtigen

Daher müssen alle Beteiligten an einen Tisch: Politiker, Plantagenbesitzer, Jäger, Forscher, Naturschützer. "Wir müssen aufklären und in Konflikten unterstützen", sagt Meijaard. Doch Öffentlichkeitsarbeit kostet Geld, und Artenschutz ist nicht nur auf Borneo chronisch unterfinanziert. Die Rehabilitation und Auswilderung von Jungtieren, was etwa fünf bis sechs Jahre dauere, sei extrem kostspielig und ineffektiv. "Wir verlieren 100.000 Tiere und retten vielleicht 1000", sagt Meijaard.

Vor allem sollten Entscheidungsträger wissenschaftliche Fakten berücksichtigen, damit der Aktionsplan zum Schutz der Orang-Utans auf validen Daten beruht. Zum Erstaunen der Studienautoren hatte die indonesische Regierung kürzlich gemeldet, dass sich die Lage der Menschenaffen verbessert habe. Voigt: "Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ. Das Monitoring der Regierung hat sich auf neun Schutzgebiete konzentriert, in denen zwei Jahre lang Daten erhoben wurden. Wir haben über 1000 Gebiete in einem Zeitraum von 16 Jahren analysiert."

Reife Früchte zählen zu den Lieblingsspeisen von Orang-Utans.
Foto: APA/dpa/John Grafilo

Positive Signale

Aus der Studie vom Vorjahr lässt sich indes auch Positives ablesen: "Es gibt tatsächlich mehr Orang-Utans, als wir bisher dachten, und einige Populationen scheinen relativ stabil zu sein", sagt der Studienleiter Hjalmar Kühl vom MPI, der ähnliche Studien zu Schimpansen und Gorillas durchgeführt hat. Hoffnung macht auch die Erkenntnis, dass Orang-Utans viel anpassungsfähiger sind als angenommen: "Früher dachten wir, sie könnten ausschließlich in Primärwald überleben", sagt Voigt, "aber sie überleben auch in degradierten Wäldern und eine Weile lang sogar in Palmölplantagen, denn sie fressen zur Not auch deren Früchte." Außerdem bewegen sich Orang-Utans auch öfter auf dem Boden als angenommen: "Wir haben Fotofallen aufgestellt, und Orang-Utans sind die mit Abstand häufigsten Tiere, die auf dem Boden zu sehen sind", sagt Ancrenaz, der die Tiere seit über 20 Jahren im Kinabatangan-Schutzgebiet erforscht.

Die Erkenntnisse haben konkrete Folgen für den Naturschutz: "Wir wissen nun, dass Plantagen überwindbar sind", so Ancrenaz. Sie könnten womöglich als Korridore zwischen vereinzelten Waldstücken dienen und so den Austausch zwischen Populationen ermöglichen, was für das langfristige Überleben entscheidend ist.

Tourismus könnte helfen

Zentral ist dafür weiters die Umsetzung der Artenschutzgesetze. So ist das Töten, Fangen und Halten von Orang-Utans, die auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion als "vom Aussterben bedroht" eingestuft sind, zwar auf ganz Borneo verboten, aber die Gesetze werden nicht eingehalten und nicht kontrolliert.

Im malaysischen Teil von Borneo wenden sich die Dinge seit kurzem: "Ab und zu werden Wilderer bestraft, das ist neu", sagt Ancrenaz. Vorreiter ist der malaysische Bundesstaat Sabah, der 30 Prozent seiner Wälder unter Schutz gestellt hat. Es ist auch der Teil Borneos mit der besten touristischen Infrastruktur. An Orten wie Danum Valley lassen sich Orang-Utans und andere Tiere gut beobachten. Das bringt Geld ein, auch für die lokale Bevölkerung. "Aus anderen Gebieten wissen wir, dass Menschenaffen eine Chance haben, wenn wir sie wertschätzen", sagt Kühl, "als Artenschützer kann ich nur sagen: Fahrt hin und schaut sie euch an." (Juliette Irmer, 24.1.2019)