Statue des Mannes von Spy – benannt nach einer Höhle in Belgien, in der die Fossilien des Neandertalers gefunden worden waren.
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Sevilla – Wie lange der Neandertaler Europa besiedelte, ist an beiden Enden offen. Angaben zu seiner Entstehung schwanken zwischen 200.000 und 400.000 Jahre vor unserer Zeit – deshalb, weil es einen fließenden evolutionären Übergang vom ursprünglich aus Afrika eingewanderten Homo erectus über den Homo heidelbergensis bis zum Neandertaler gab. Bei Fossilienfunden lässt sich nicht immer genau sagen, welcher Stufe in diesem Kontinuum sie zuzuordnen sind. Und die bisherige Antwort auf die Frage nach dem Ende des Neandertalers muss durch eine aktuelle Studie vielleicht auch wieder relativiert werden.

Alteingesessen und neueingewandert

Auf jeden Fall lebte unser eiszeitlicher Cousin einige hunderttausend Jahre in Europa und überstand dabei auch mehrfache drastische Klimaschwankungen. Er verschwand erst, als sich mit dem Homo sapiens eine neue Welle von Einwanderern aus Afrika in Europa ausbreitete. Forscher gehen heute nicht mehr davon aus, dass der Neandertaler vom Homo sapiens gewaltsam ausgerottet wurde. Es dürfte eher ein langsamer Verdrängungsprozess gewesen sein, zustandegekommen durch eine höhere Fortpflanzungsrate unserer Spezies.

Zudem weiß man mittlerweile durch Erbgut-Analysen, dass der Neandertaler nicht komplett verschwunden ist: Zwar gibt es ihn nicht mehr als eigene Menschenart, doch haben sich Neandertaler und unsere Vorfahren vermischt. Letztlich ist er also in uns aufgegangen, wenn auch aufgrund seiner geringen Populationszahlen nur in Form von wenigen Prozent unseres Genoms.

Wann starb der Neandertaler aus?

Wann er als eigenständige Spezies mit eigener Kultur verschwand, ist aber schon die nächste offene Frage. Ungefähr vor 40.000 Jahren dürfte es gewesen sein, wenn es nach den jüngsten Fossilienfunden geht, deren Alter eindeutig bestimmbar ist. Der namensgebende Fund aus dem deutschen Neandertal stammt damit bereits aus der Spätphase der Spezies.

Doch da gibt es auch Funde aus dem Süden der Iberischen Halbinsel, die deutlich jünger sein sollen – vielleicht nur 32.000 Jahre alt und damit aus einer Zeit stammend, in der sich der Homo sapiens im übrigen Europa längst etabliert hatte. Das führte zur Vorstellung einer "letzten Bastion" des Neandertalers, die sich in Südspanien unerklärlich lange gehalten haben müsste.

Neudatierung

Ein internationales Archäologenteam hat sich nun jedoch Funde aus der Bajondillo-Höhle an der Küste Südostspaniens noch einmal genau angesehen. Anhand der dort gefundenen Artefakte kann man den Übergang vom sogenannten Moustérien, dem letzten Abschnitt der Neandertaler-Kultur, zum Aurignacien feststellen, der ältesten Kulturepoche des Homo sapiens in Europa.

Mit dem Aurignacien (Fundstätten und potenzielle Migrationsrouten sind orange hervorgehoben) wechselte nicht einfach nur eine Kulturepoche die andere ab, sondern auch eine Spezies ihre Vorgängerin.
Illustration: Universität Sevilla

Bei der Neudatierung der Funde kamen die Forscher um Miguel Cortés-Sánchez und Francisco J. Jiménez-Espejo auf ganz andere Werte als ihre Vorgänger: Der Kulturwechsel habe nicht vor 32.000, sondern vor 45.000 bis 43.000 Jahren stattgefunden: So alt seien die ältesten Funde, die dem Aurignacien und damit dem Homo sapiens zugeordnet werden können. Der Wechsel hätte damit im Großen und Ganzen im Takt mit der Ablösung des Neandertalers durch unsere Spezies im übrigen Europa und sogar eher früher als später stattgefunden.

Zustimmung und Skepsis

Erste Reaktionen auf die Studie fielen gemischt aus – immerhin ist eine Diskrepanz von über 10.000 Jahren keine Kleinigkeit, gemessen an der Lebensdauer menschlicher Kulturen. João Zilhão von der Universität Barcelona ist nach wie vor von der Idee der Neandertaler-Bastion überzeugt und verwies gegenüber dem "New Scientist" darauf, dass die Fundschichten an Orten wie der Bajondillo-Höhle vermischt und daher schwer zu datieren seien.

Andere Fachkollegen hingegen – etwa Katerina Douka vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte – sehen die Neudatierung als im Einklang mit den Funden aus dem übrigen Europa und daher stimmig an. Douka sagte, es sei ohnehin seltsam gewesen, dass der Homo sapiens zusätzliche 8.000 bis 10.000 Jahre gebraucht haben soll, die Iberische Halbinsel in Anspruch zu nehmen.

Alles andere als ein Refugium

Da angeblich jüngere Neandertalerfunde aus anderen Regionen ebenfalls als fraglich gelten, kommen die Forscher zum Schluss, dass unser eiszeitlicher Cousin in ganz Europa bereits vor gut 40.000 Jahren verschwand. Küstenregionen wie die um die Bajondillo-Höhle könnten bevorzugte Transitrouten gewesen sein, über die sich der Homo sapiens rasch über Europa ausbreitete und den Neandertaler verdrängte.

Studienkoautor Arturo Morales-Muñiz geht sogar noch einen Schritt weiter und wirft die Frage auf, ob nicht sogar die Straße von Gibraltar eine Route gewesen sein könnte, über die der moderne Mensch überhaupt erst in Europa ankam. Südspanien wäre demnach nicht das beschauliche Refugium gewesen, in dem dem Neandertaler noch ein paar zusätzliche Jahrtausende vergönnt waren – sondern ganz im Gegenteil ein Hotspot des grundlegenden Wandels, den Europa damals erlebte. (jdo, 23. 1. 2019)