Wien – Der Fall von Andreas G. ist ein schönes Beispiel dafür, warum es für ein Gericht wichtig ist, sich einen persönlichen Eindruck vom Angeklagten zu verschaffen. Denn hört man nur, dass der 39-Jährige dreimal wegen Gewaltdelikten vorbestraft ist und in der Silvesternacht seinem Opfer am Lerchenfelder Gürtel ein Messer an den Hals gehalten hat, um Geld zu fordern, scheint die Sache ein klarer Fall für eine hohe Strafe zu sein. Vor Richterin Christina Salzborn zeigt sich, dass die Angelegenheit komplexer ist.

Der Angeklagte humpelt auf eine Krücke gestützt neben dem Justizwachebeamten in den Saal. Als Spätfolge eines Unfalls im Jahr 2001 ist G. in den vergangenen beiden Jahren mehrmals am Knie operiert worden, leidet unter Schmerzen, gegen die ihm verschiedene Medikamente verschrieben wurden. Manche von denen vertragen sich von Haus aus nicht mit Alkohol, bei einem trockenen Alkoholiker ist die Kombination erst recht kritisch.

Studium nach Meisterprüfung

Verteidiger Michael Alber zeichnet im Eröffnungsplädoyer den Lebensweg seines Mandanten nach. Nachdem G. Mechanikermeister wurde, studierte er noch und absolvierte Auslandsaufenthalte in London und China. Den Traum von der Selbstständigkeit finanzierte er sich mit einem Kredit, von dem heute noch 200.000 Euro offen sind. Erfolgreich war der Traum nicht: Das Unternehmen wurde insolvent, die Beziehung mit der Mutter seines Kindes zerbrach – "das ließ ihn Bekanntschaft mit Alkohol machen", bedauert Alber.

In diesem Zusammenhang sei es auch zu den Vorstrafen gekommen, G. habe aber freiwillig 2015 eine Entzugstherapie absolviert. Dann wurden die Knieprobleme ab 2017 schlimmer, der Angeklagte konnte nicht mehr arbeiten und lebte zuletzt von 800 Euro Mindestsicherung. "Er bekommt wegen des Unfalls Geld von der Versicherung, aber eine vor Weihnachten vereinbarte Überweisung kam verspätet", erinnert sich der Verteidiger. Erst am Nachmittag des 31. Dezember habe er sich mit G. in einem Café getroffen und 1.500 Euro in bar übergeben.

Erstes Glas Bier um 16 Uhr

Um 16 Uhr trank der Angeklagte da sein erstes Bier. "Ich habe die vergangenen beiden Silvester nie feiern können, erstmals hat es ausgesehen, als ob es wieder aufwärts geht", entschuldigt er sich. "Als trockener Alkoholiker müssten Sie doch wissen, dass Sie gar nichts trinken dürfen", wirft die Richterin ein. G. nickt.

Zunächst ging es weiter zu einer privaten Neujahrsfeier, mit einem Freund ging er nach Mitternacht noch in ein Gürtellokal, verlor ihn aber gegen 1.30 Uhr aus den Augen. "Ich habe ihn draußen gesucht und bin auf der Straße links und rechts von jeweils zwei Männern angerempelt worden", erinnert sich der Angeklagte. "Einer hat sich noch umgedreht und gefragt, ob alles in Ordnung sei."

Zu diesem Zeitpunkt glaubte G. das noch, kurz darauf wurde er eines Besseren belehrt. "Ein junger Bursch ist hergekommen und hat mich gefragt, ob ich mein Handy wiederhaben will." Der Angeklagte griff in die rechte Jackentasche – das Handy war weg. Er griff in die linke – auch das Geld war verschwunden.

Amtsbekannter Teenager verschwunden

Der Bursch war laut Polizei ein amtsbekannter, aber nicht mehr auffindbarer 14-Jähriger. "Ich wollte ihn packen, da ist er Richtung Kebabstand weggelaufen", schildert der Angeklagte. Aufgrund seines lädierten Knies kam er nur langsam hinterher und hob dabei noch ein Klappmesser auf, das er am Boden fand.

Beim Imbissstand sah G. einen jungen Mann stehen. "Der hat mich angegrinst. Ich dachte, er gehört zu der Bande. Ich konnte in dem Moment einfach nicht mehr klar denken." Der Angeklagte packte den deutschen Studenten am Kragen, hielt das Messer in Richtung seines Halses und forderte seine 1.500 Euro zurück. "Der Herr hat gesagt, ja, er gibt mir das Geld", weiß G. noch. "Bei der Polizei hat er gesagt, er hat mitgespielt, da Sie so bedrohlich wirkten, als ob Sie auf etwas drauf sind."

Einem zweiten Deutschen schlug der Angeklagte die Brille vom Gesicht und verletzte ihn dabei leicht, als drei Polizisten mit gezogener Pistole kamen, ließ er sich widerstandslos festnehmen. "Ich habe dann schon gemerkt, dass ich mich geirrt habe. Der erste Herr hat mir ja auch gezeigt, dass seine Geldbörse fast leer ist."

Opfer hatte "Todesangst"

Die beiden Opfer wollen nicht in Anwesenheit des Angeklagten vernommen werden, der mit dem Messer Bedrohte schildert, er habe "Todesangst gehabt. Ich war in dieser Situation überzeugt, dass er zustechen wird."

"Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor?", will Salzborn am Ende von G. wissen. "Ich will, dass mein Fuß wieder in Ordnung kommt, damit ich mein Leben wieder in die richtigen Bahnen lenken kann", hört sie als Antwort. Für März habe er bereits einen Rehaaufenthalt bewilligt bekommen, um die verkümmerten Muskeln in seinem betroffenen Bein wieder zu stärken.

"Es ist schon ein Sonderfall aufgrund des Medikamentencocktails", begründet die Richterin schließlich ihr Urteil wegen Körperverletzung, gefährlicher Drohung und schwerer Nötigung von zehn Monaten, von denen eines unbedingt ist. Schließlich hatte auch der medizinische Sachverständige bestätigt, dass eines der nötigen Schmerzmittel zu Halluzinationen und Feindseligkeiten führen könne. "Aber die beiden Herren haben den Schock ihres Lebens erlitten", appelliert Salzborn noch an G., künftig auf Selbstjustiz und Messereinsatz zu verzichten. Helfen sollen ihm dabei Bewährungshilfe und die Weisung zu einer Psychotherapie. (Michael Möseneder, 24.1.2019)