Eine wahre Goldgrube für Pharma-Konzerne sind seit jeher neu entdeckte Wirkstoffe. Zurzeit schürft die internationale Branche aber verstärkt auch in den Bergen elektronischer Daten, die Patienten auf ihren Wegen von Arztpraxen zu Apotheken oder von Kliniken zu Krankenkassen hinterlassen. Die Unternehmen wollen die inzwischen digital verfügbaren Patientenakten, Melderegister und Versicherungsdaten auch mit Künstlicher Intelligenz (KI) auswerten. So sollen Krankengeschichten und Behandlungserfolge einer Vielzahl von Patienten miteinander verknüpft werden, um neu Erkrankte gezielter behandeln zu können. Großes Potenzial sieht die Pharma-Industrie vor allem bei Krebs sowie Herz- und Atemwegserkrankungen.

Patientendaten auswerten

Seit langem gelten klinische Studien als das A und O für die Beurteilung der Tauglichkeit von Medikamenten. Solche Untersuchungen werden aber immer teurer und die Auswahl an Studienteilnehmern ist begrenzt. Digital gesammelte Daten von Millionen Behandelten könnten dagegen bei niedrigeren Kosten ein schärferes Bild von Therapie-Erfolgen und -Rückschlägen zeichnen, argumentieren die Befürworter. Mit individuell zugeschnittenen Arzneien – der sogenannten personalisierten Medizin – hofft die Branche auf neue Absatzmöglichkeiten. Doch auf dem Weg ins Big-Data-Eldorado gilt es, Datenschutz-Hürden zu nehmen.

"Keiner will, dass seine Schizophrenie bekannt wird"

Selbstverständlich müssen die Daten des Einzelnen geschützt werden, wie Siegfried Throm, Geschäftsführer Forschung, Entwicklung und Innovation beim Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) betont. "Natürlich will keiner, dass bekannt wird, dass er Aids oder Schizophrenie hat." Aber die im Verband vertretenen Pharmafirmen seien auch gar nicht an solchen persönlichen Informationen interessiert. Es gehe ihnen um die Auswertung anonymisierter Daten vieler Patienten, unter anderem um neue Biomarker zu bestimmen. Solche Merkmale beispielsweise im Erbgut könnten den Weg zur richtigen Therapie weisen, wie es bei bestimmten Krebsarten schon gelungen sei. Doch gerade in Deutschland sei der Datenschutz sehr komplex.

Schließlich müssen hier die Datenschutzbeauftragten aller 16 Bundesländer grünes Licht geben, wenn sich Studien auf die ganze Republik erstrecken, wie Throm erklärt. Und die Gesetze in den Bundesländern seien sehr unterschiedlich, auch nach Einführung der EU-Datenschutzrichtlinie. "Das ist alles nicht unbedingt förderlich, wenn man ein großes Projekt anschieben will."

"Normenwirrwar"

Dabei kritisieren auch Datenschützer das "Normenwirrwarr", wie es Thilo Weichert nennt. Der frühere Datenschutzbeauftragte des Landes Schleswig-Holstein, bekannt geworden durch seine Auseinandersetzung mit Facebook, verfasst immer wieder Gutachten zur Daten-Analyse nicht zuletzt in der Pharmaforschung. Er zeigt sich dafür durchaus aufgeschlossen: "Gegen die Auswertung von medizinischen Behandlungsdaten – auch in Big-Data-Dimensionen – ist nichts einzuwenden, wenn die rechtlichen Anforderungen beachtet werden." Wichtig sei aber, dass es entsprechend der ärztlichen Schweigepflicht ein Forschungsgeheimnis gebe. Es müsse sichergestellt werden, dass die Daten nicht bei einer Versicherung oder beim Arbeitgeber des Patienten landeten.

Kritiker: Big-Data-Analyse nur kommerzielle Marktforschung

Kritiker sehen in dem Trend zur Analyse von Daten aus dem Patientenalltag, von Experten "Real World Data" genannt, eher Marktforschung der Pharma-Riesen – befeuert von Tech-Konzernen mit ihren umstrittenen Datenbergen aus Fitness-Armbändern, -Apps und den sozialen Medien. "Bei der Pharma-Forschung muss sauber zwischen kommerziell geleiteter und erkenntnisgeleiteter Forschung unterschieden werden", mahnt auch Datenschützer Weichert. Doch auf kommerzieller Seite preschen einige längst vor: So bieten US-Firmen Gen-Analysen per Speichelprobe an und verkaufen die nach eigenen Angaben anonymisierten Daten weiter an die Pharma-Industrie.

"Wir sollten unsere eigenen Datenstandards, ethischen und moralischen Ansprüche gesetzlich formulieren", fordert Thomas Solbach, Molekularmediziner und Experte für personalisierte Medizin bei Strategy&, der PwC-Strategieberatung für Konzerne. "Untätigkeit bedeutet, dass man hinnehmen muss, was andere Länder schon an Fakten geschaffen haben." Zudem deuteten hauseigene Umfragen darauf hin, dass eine breite Mehrheit der Deutschen für eine bessere, personalisierte Vorsorge und Behandlung durchaus bereit sei, persönliche Daten zur Verfügung stellen. "Das ist ein Weckruf und Auftrag an alle Beteiligten."

"Datenschutz-Bashing ist en vogue"

Auch der Medizininformatiker Martin Dugas fordert einen klaren Rechtsrahmen, um Vorteile von Big Data in der Pharma-Forschung nutzen zu können. "Generelles Datenschutz-Bashing ist vielleicht 'en vogue' zurzeit, aber das löst nicht das Problem", sagt der Professor der Uni Münster und warnt zugleich vor überzogenen Erwartungen an die Analyse großer Datenmengen. Sie führe nicht automatisch zu besserer Forschung. Wichtig sei, dass die Daten vergleichbar, strukturiert und vollständig seien. Das sei bei Informationen aus dem Patientenalltag allerdings nicht unbedingt der Fall, erklärt der Mediziner. "Wenn im Arztbrief nichts über den Herzinfarkt in der Vorgeschichte steht, dann ist diese Information für die Forschung eben auch nicht verfügbar." (Reuters, 25.1.2019)