Stalin-Tapisserien an den Wänden, Häkeldecken auf dem Tisch: Das Kunstprojekt "Dau" wurde bereits im Voraus als genial, größenwahnsinnig oder grenzwertig eingestuft.

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Wenn es einen Ausgangspunkt gibt für dieses irre Projekt, dann muss man ihn sich vielleicht wie die blutrote Vagina vorstellen, gelegen unter der Bar, die sie hier nur das "Shitty Hole" nennen, der einzige beheizte Ort in der Baustelle des Pariser Théâtre du Châtelet, wo der Wodka ohne Ende fließt. Die Vagina ist ein rosaroter Flur in Form eines überdimensionierten Geburtsorgans, der Boden so weich, dass er unter den Füßen nachgibt. An solchen Orten werden entweder Neurosen geboren oder es wird Großes und Ganzes gedacht.

Wer sich in das Abenteuer von Dau begeben will, muss ein Visum beantragen. Damit ist klar: Es geht hier um mehr als nur um immersive Kunst, es geht um eine Reise in eine andere Zeit, in eine andere Welt, in die alte Sowjetunion und den trostlosen Kosmos des real existierenden Sozialismus, KGB inklusive.

Auf der Pariser Place du Châtelet ist ein Glaskasten aufgebaut, in dem man sich sein Visum abholen kann, das nur erhält, wer eine Reihe Fragen beantwortet hat. Zur Rechten liegt das Théatre du Châtelet, ein Musiktheater aus den Zeiten des Baron Haussmann, zur Linken sein Pendant, das Théâtre de la Ville. Beide Häuser werden seit 2017 grundsaniert.

Pannen zum Anfang

In diesen Baustellen hat sich seit Donnerstag für einen ganzen Monat Dau eingerichtet, das Kunstprojekt des russischen Filmemachers Ilya Khrzhanovsky. Im nahegelegenen Centre Pompidou liegt eine weitere Spielstätte. Alle drei Orte sollen nachts durch ein rotes Leuchtdreieck verbunden werden. Am Mittwochabend hat die Lichtinstallation noch nicht funktioniert, wie so manches andere auch nicht am Tag vor der offiziellen Eröffnung. Wenn man ehrlich ist, müsste man sogar sagen: Nichts lief rund an diesem Chaostag. Selbst der rote Sowjettee war kalt, der in Blechtassen serviert wurde. Schlimmer noch, eine alte Dame stürzte eine spiegelglatte Holztreppe hinunter. Auch am Donnerstag, am offiziellen Eröffnungstag, blieben beide Theater geschlossen. Begründet wurde das mit technischen Problemen. Am Freitag war immer noch nicht klar, wann Dau eröffnet. Wer ein Visum für den ersten Tag hatte, machte echte Sowjeterfahrungen: Anstehen für nichts.

Im Nachhinein gibt der mehr als misslungene Pariser Start den Berlinern recht, denn dort hätte Dau eigentlich schon im Herbst als Erstes gezeigt werden sollen, mitsamt Nachbau der Berliner Mauer. Aber in der deutschen Hauptstadt ist das russische Projekt auf Widerstand gestoßen. Es gab Sicherheitsbedenken, aber auch harte Kritik. Khrzhanovsky wurde "Banalisierung", ja "Schändung" der Geschichte vorgeworfen.

15 Jahre Vorbereitungszeit

Der 43-jährige Regisseur hat über 15 Jahre an diesem Happening gearbeitet. Auf den ersten Blick wirken viele, die Monate oder Jahre ihrer Lebenszeit in das Projekt gesteckt haben, wie Mitglieder einer Sekte. "Dau ist keine Sekte", sagt Ilya Permyakov, der den Begriff der "Kryptogemeinschaft" vorzieht, vergleichbar mit "Platons Akademie oder dem Hof von Rudolf II.". Solche Sätze geben den Ton an.

Permyakov, Philosoph, ist ein stiller Mann, der die Haare zum Samurai-Zopf gebunden trägt. Er steht in einem blutrot gestrichenen engen Gang im Théâtre du Châtelet, wo die Logen und Büros Teil einer sowjetischen Großinstallation geworden sind, und philosophiert über Totalitarismus, Manipulation und Gewaltbereitschaft. Bald werden sich 400 Besucher gleichzeitig durch diese Gänge quetschen, und man wird nicht mehr unterscheiden können, wer hier Silikonfigur ist oder echt. Denn bevölkert ist die Installation von täuschend echt wirkenden Sowjetbürgern in grauen Anzügen.

Die Räume sind entweder zur Hälfte mausgrau und bordeauxrot gestrichen oder aber mit alten Tapeten in Wohnzimmer der UdSSR der Fünfzigerjahre verwandelt. Entstanden ist eine Art Wunderkammer des Homo sovieticus mit Stalin-Tapisserien an den Wänden, Häkeldeckchen auf den Tischen; ein halb aufgeschnittenes Herz, in Harz gegossen, ist da zu sehen, Puschkins Grabstein, ein Dildo aus Holz, blutrot bepinselt, in Leder gebundene Bände über die Revolution. Auch einen Sex-Room gibt es, angeblich mit Handschellen und Peitschen aus der DDR.

Maßgeschneiderter Parcours

Der Parcours eines jeden Besuchers ist maßgeschneidert, heißt es, weil ein geheimnisvoller Algorithmus nach dem Antrag des Visums ein Profil erstellt. Beim Betreten der Ausstellung verschwindet das eigene Telefon in einem Schließfach, dafür bekommt man ein "Dau-Phone", das Anweisungen gibt. Wer ein Dauervisum kauft, kann einen Monat lang bleiben, Tag und Nacht. Am Ende steht für jeden ein Gespräch mit einem Geistlichen, einem Schamanen oder einem Psychologen in kleinen, von außen verspiegelten Beichtstühlen.

Dau, drei Buchstaben nur, aber so viel Wunsch- oder Wahnvorstellungen, so viel Angst vor einem oder Vorfreude auf ein Kunstprojekt, das im Vorfeld wahlweise genial, größenwahnsinnig oder grenzwertig schien. Insider hatten immer mal wieder von diesem geheimnisvollen Projekt gehört, von jahrelangen Dreharbeiten in der Ukraine, wo sich Wissenschaftler, Philosophen und andere Bürger für ein Menschenexperiment hergegeben haben: Drei Jahre lang, von 2008 bis 2011, haben sie dort so gelebt wie in der Sowjetunion in den Jahren von 1938 bis 1968.

Freiwilliger Gulag

Sie haben dort gearbeitet, gegessen, sich geliebt und geschlagen und dabei rund um die Uhr filmen lassen. Man muss sich das wohl wie ein Big Brother des Kommunismus vorstellen, wenn nicht wie einen freiwilligen Gulag. Alles war sowjetisch, von der Unterhose bis zum Geräusch der Klospülung. Im Winter froren die Fenster zu, und wer ein Wort benutzte, das nicht zum Sowjetvokabular gehörte, musste Strafe zahlen.

An das Drehbuch wurde sich nur kurze Zeit gehalten. Das Set war keine Kulisse im klassischen Sinne, sondern realer Lebensraum. Aus dem Nachbau des Forschungslabors des russischen Physiknobelpreisträgers Lew Landau wurde über die Jahre ein Dorf von der Größe von zwei Fußballfeldern. Von Landaus Namen kommt auch die Abkürzung Dau.

700 Stunden Film

Ursprünglich war der Film als eine Biografie über den genialen Physiker gedacht, der bis zu seinem 27. Lebensjahr keinen Sex gehabt haben soll, dann aber in seinem Forschungszentrum eine Art wissenschaftliche Hippie-Kommune avant la lettre als Ober-Casanova geleitet hatte. Entstanden sind 700 Stunden Film, die zu insgesamt 13 Spielfilmen geschnitten wurden. Wer erste Auszüge der Filme gesehen hat, muss den Eindruck gewinnen, dass es sich um ein künstlerisches Milgram-Experiment handelt, jenen Menschenversuch, bei dem die Bereitschaft getestet wird, autoritären Anweisungen zu gehorchen, auch wenn sie anderen Schmerz verursachen. Das Presseheft präzisiert: Kein einziger Mensch sei bei den Dreharbeiten gestorben.

In Paris wurde bislang nur ein kurzer Trailer gezeigt, der einen Vorgeschmack gibt: ein Mix aus Sex und Quantenphysik, eine eigene, befremdende Ästhetik, dazu philosophische Sätze wie: "Das Glück existiert nicht, es ist eine Illusion." Auch Dau ist im Augenblick noch eine Illusion, ein Versprechen. Unklar ist, ob es in den folgenden Wochen eingelöst wird oder für alle Zeiten ein leeres bleibt. (Martina Meister aus Paris, 26.1.2019)