Demonstranten blockierten bei Protesten gegen Präsident Maduro Straßen in Venezuela.

Foto: YURI CORTEZ / AFP

STANDARD: Was ist neu am aktuellen Machtkampf zwischen Opposition und Regierung?

Hernández: Das ist ein langfristig angelegtes Schachspiel, das auf mehreren Brettern gleichzeitig gespielt wird. Eines ist der nationale Konflikt, ein zweites sind die regionalpolitischen Auswirkungen, und schließlich ist da die große Geopolitik mit Akteuren wie China, USA und Russland. Die Opposition war bisher im Machtkampf unterlegen, hat mit den überraschenden Spielzügen der letzten zwei Tage aber einen strategischen Vorteil erkämpft. Früher hatte die Opposition immer nur ein Ziel: Maduros Abtritt. Jetzt haben wir ein komplexes Szenario, das seit acht Monaten minutiös vorbereitet wurde und in das mehrere Regierungen verwickelt sind.

STANDARD: Wie sieht denn das Drehbuch aus?

Hernández: Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat Maduro immer mehr in die Illegalität abgleiten lassen und das international denunziert. Der erste Schritt war die verfassungswidrige Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung 2017, die dann verfassungswidrig Wahlen einberief, in denen sich Maduro durch Wahlbetrug bestätigen und Anfang Jänner verfassungswidrig vereidigen ließ. Das gab den Auslöser für die Reaktion des Parlaments unter Juan Guaidó. Maduro hat sich selbst ins Aus manövriert. Sein Überleben hängt nun allein von den Militärs ab. Das ermöglicht eine diplomatische Verhandlungslösung, denn es ist die Alternative mit den geringsten Kosten für alle. Jetzt muss der Plan aber noch aufgehen, dass die Militärs sich von Maduro distanzieren und ihn zwingen, vorgezogene Neuwahlen auszurufen.

STANDARD: Und wenn das nicht geschieht?

Hernández: Dann müssten die Militärs ein Blutbad in Kauf nehmen und eine Militärdiktatur errichten. Denn dass dieses Regime den Rückhalt im Volk fast komplett verloren hat, haben die winzigen Pro-Regierungs-Kundgebungen der vergangenen Tage gezeigt.

STANDARD: Wie wahrscheinlich ist ein solcher Bruch zwischen Maduro und den Militärs?

Hernández: Es gibt Anzeichen. Das Militär hat sehr lange gebraucht, um zu reagieren. Teile der Truppen haben bei den Demonstrationen der Opposition mitgemacht. Verteidigungsminister Vladimir Padrino ist ein Vertrauter Maduros, aber er hat seinen Rückhalt sehr vorsichtig formuliert und mehr von der Verfassungstreue der Streitkräfte und Dialog gesprochen als von bedingungsloser Treue zu Maduro. Die nächste Machtprobe soll am Samstag stattfinden, wenn die 72-Stunden-Frist für die Ausweisung der US-Diplomaten abläuft.

STANDARD: Was passiert dann?

Hernández: Die USA werden ihre Diplomaten wohl im Land belassen, das ist klar. Maduro kann das entweder akzeptieren, womit er seine Schwäche einräumt, oder er versucht sie gewaltsam hinauszuwerfen, was das Völkerrecht verletzte und den USA einen Vorwand zur Intervention gäbe.

STANDARD: Ist denn eine solche Intervention wahrscheinlich?

Hernández: Die USA spielen mit dem Gedanken, und auch Maduro ist jemand, der sich zum Märtyrer einer imperialistischen Intervention berufen fühlt. Den USA und der Opposition nützt ein solches Szenario aber nicht – dann würde aus einer Bürgerrebellion ein Kampf gegen das Imperium.

STANDARD: Momentan ist eher eine Amnestie auf dem Tisch, wenn Maduro das Land verlässt ...

Hernández: Ja, diese Türe haben sie ihm geöffnet, um die Kosten des Regimewechsels möglichst niedrig zu halten. Wir wissen nicht, ob er das annimmt. Das wird von den Militärs, aber wohl auch von den Kubanern abhängen.

STANDARD: Welche Rolle spielen die Kubaner?

Hernández: Sie hängen von Venezuelas Erdöllieferungen ab, sind aber ebenfalls in einer schwierigen Situation. Die antikubanische US-Lobby würde gerne Venezuela zum Vorwand nehmen, um sich gleich der linken Regime in Kuba und Nicaragua zu entledigen. Das heißt, dass sie bei einer Militäroperation in Venezuela kubanische Berater schnappen könnten, um einen internationalen Konflikt vom Zaun zu brechen. Fiele Kuba, fiele auch Nicaragua.

STANDARD: Haben die Streitkräfte überhaupt alles unter Kontrolle? Es gibt ja noch die Regierungsmilizen und bewaffnete Mafiagruppen.

Hernández: Das Risiko eines Zerfalls ist sehr groß. In Venezuela gibt es mehr Generäle als in der kompletten EU, und jeder General befehligt nicht nur eine Truppe, sondern kontrolliert auch ein bestimmtes Geschäft – Gold, Drogen oder Schmuggel. Die operative Leitung dieser Geschäfte liegt meist in den Händen von Verbrecherbanden, zum Beispiel der kolumbianischen Guerilla ELN.

STANDARD: Was wird Guaidó jetzt weiter tun?

Hernández: Er wird Diplomaten und eine Regierungsmannschaft ernennen. Er wird vom Ausland Geld und humanitäre Hilfe bekommen. Wenn die Regierung diese an der Grenze blockiert, wird er vermutlich die Uno um Unterstützung bitten und Blauhelme anfordern. (Sandra Weiss, 26.1.2019)